Fast wieder normal

Stefan Steinke spielte 314-mal in der Handball-Bundesliga. Dann platzte ein Gefäß in seinem Gehirn

SCHWERIN taz ■ Und dann ist der Gedanke verloren. Die kleinste Ablenkung, ein fremdes Gesicht, ein klingelndes Handy – und die Konzentration ist dahin. Dieses Mal ist es der Kellner, der den Cappuccino bringt und das Gespräch durchbricht. Der Blick von Stefan Steinke, 31, wandert durch das Café, er springt von einem Gast zum nächsten, als wäre er auf der Suche. Wenig später richten sich die Augen wieder auf den eigenen Tisch, gefunden hat Stefan Steinke nichts, er fragt: „Was habe ich gerade gesagt?“

Es ist eben doch noch nicht alles, wie es einmal war. Die Vergesslichkeit ist zurückgeblieben. Sie ist unsichtbar, nicht so hässlich wie eine Narbe, aber doch präsent. 21 Monate ist es nun her, dass die Karriere des Handballers Stefan Steinke zu Ende ging. 314 Bundesliga-Spiele hatte er bestritten, für Empor Rostock, den VfL Gummersbach, Wallau/Massenheim, den VfL Hameln und Post Schwerin. Warum ihm die Gedanken nicht mehr so gehorchen wie früher? „Mich hat jemand mit der Baseballkeule niedergeschlagen“, sagt Stefan Steinke. Er meint das nicht wörtlich, aber so muss es sich angefühlt haben am 13. Oktober 2002: wie eine brutale Überraschung. Vor dem Zimmer seiner Tochter brach er zusammen. Ein Gefäß im Zentrum des Gehirns war geplatzt. Drei Wochen lag Stefan Steinke im künstlichen Koma, die Blutung wäre zu schmerzhaft gewesen. Er dachte immer, dass er ein kerngesunder Mann sei. Kein Knochenbruch hatte seine Laufbahn getrübt, keine Allergie, nicht mal eine Allerwelts-Angina. Bis er die Fehlbildung bemerkte, ein so genanntes Aneurysma, nach 29 Jahren.

Stefan Steinke fällt es nicht mehr schwer, ein längeres Interview zu führen, endlich. Das Schlimmste hat er hinter sich, die halbseitige Lähmung, die wochenlange Reha. Sogar die Erinnerungen fügen sich langsam wieder zusammen, wie die Einzelteile eines schwierigen Puzzles. „Es ist fast wieder alles normal“, sagt er. Mit Betonung auf dem letzten Wort, als wäre ihm Normalität der liebste Superlativ. Viele Geschichten hat er gehört in den vergangenen Monaten, Geschichten, die das Koma verschluckte. Als er aufwachte, dachte Stefan Steinke, er sei ein Boxer, weil er am Tag vor dem Zusammenbruch einen Boxkampf besucht hatte. „Das wurde mir auch nur erzählt“, sagt er. Und es klingt wie eine Entschuldigung.

Manchmal, wenn er mit seiner Frau durch Schwerin spaziert, trifft er Krankenpfleger von früher, Menschen, die er nicht zu kennen glaubt und denen er doch einiges zu verdanken hat. Eigentlich ist er froh, nicht jedes Detail aus der Intensivstation vor Augen zu haben, die Schläuche, die aus seinem Kopf ragten, oder die Wiederbelebungsgeräte neben seinem Bett. Stefan Steinke ist ein lockerer, redseliger Typ, 90 Kilo schwer, niemand, der mit sanfter Stimme nach Mitleid sucht und dazu neigt, depressiv zu werden. Er ist ein starker Mann, doch er darf kein starker Mann mehr sein. Der Gefäßknoten im Gehirn könnte wieder aufplatzen, jederzeit, eine Operation wäre zu gefährlich. Die Ärzte haben ihm Anstrengungen untersagt, der Puls darf nicht höher als auf 130 steigen.

Stefan Steinke kann sich keinen Stress mehr leisten. Oft muss ihn seine Frau bremsen. Wenn er unter Zeitdruck steht und zur Straßenbahn läuft, wenn er einen Kasten mit Wasserflaschen hebt oder über Stunden Lärm ausgesetzt ist, kurz: wenn der Alltag seine ungemütliche Seite zeigt. Er darf nicht einmal mehr pressen, wenn er auf der Toilette sitzt. „Das hört sich schlimmer an, als es ist. Glauben Sie mir, ich kann damit leben“, sagt er.

Das Selbstvertrauen hat er nicht verloren. Susanne Steinke, 35, sieht das anders, für sie ist es noch immer anstrengend, Worte zu finden. „Ich denke jeden Tag daran, dass es wieder passiert“, sagt sie dann. Entsetzt sah sie im letzten Jahr die Fernsehbilder der Fußballprofis, die auf dem Rasen umkippten, auf ihrem Arbeitsplatz. Kurz darauf waren Marc-Vivian Foe aus Kamerun und Miklos Feher aus Ungarn tot. Susanne Steinke sah Parallelen, wo keine Parallelen waren. Am Anfang wollte sie einen Psychologen aufsuchen, um die Situation besser zu verarbeiten. Sie hat es sich anders überlegt, das Leben für Lidia, die fünfjährige Tochter, sollte so normal wie möglich weitergehen. Es hat sich schließlich genug verändert.

Und dann wäre da ja noch der Sport. Früher diktierte der Handball das Leben von Stefan Steinke, inzwischen ist davon nichts mehr zu spüren. Sein Leben hat an Intensität verloren. Er ist nicht traurig darüber, abgeschottet zu sein vom großen Handball. Die Krankheit hat ihm eine wichtige Entscheidung abgenommen, so makaber sich das anhören mag. Die ewigen Reisen zu Auswärtsspielen, der Leistungsdruck, die mäßige Zahlungsmoral mancher Vereine, auf all das kann Stefan Steinke gut verzichten: „Jetzt stecke ich nicht mehr in der Mühle des Leistungssports. Ich bin wie Herr Meier oder Herr Müller, bloß mit einer Fehlfunktion, aber sonst ganz normal.“

Viele deuten das N-Wort als Mittelmaß, als Grauzone, Stefan Steinke ist gerne normal. Seit kurzem arbeitet er wieder acht Stunden täglich, in der Deutschen Kreditbank in Schwerin, die Lehre zum Bankkaufmann hatte er abgeschlossen, bevor die Handballkarriere Tempo aufnahm. Er ist noch weit vom Arbeitspensum anderer Mitarbeiter entfernt, das weiß er, doch er arbeitet sich an die Norm heran. Langsam, aber immerhin. „Irgendwann ist wieder alles wie früher.“ Nur die Nummer seiner EC-Karte ist ihm noch immer nicht eingefallen, doch das ist ihm egal. Was sind schon vier läppische Ziffern, verglichen mit dem aufrechten Gang?

Kurz vor Ende des Gesprächs bimmelt das Handy, es ist Frau Steinke. Sie bittet ihren Mann, Kartoffeln mit nach Hause zu bringen. „Schreib mir bitte eine SMS, sonst vergess ich das wieder“, antwortet er. Dann lächelt er, als hätte er gerade jemanden ausgetrickst. Der Gedankenfahnder Stefan Steinke hat es gelernt, verlorene Erinnerungen wieder aufzusammeln.

RONNY BLASCHKE