Alles in Entwicklung

Seit wir die Erde nicht mehr für eine Scheibe halten, hat Charles Darwin unser Weltbild mit am stärksten geformt. Dabei fand dieser nicht einmal, dass seine Evolutionstheorie zwingend gegen Gott spreche

VON BARBARA KERNECK

Quer über den Atlantik, rund um Südamerika zur Antarktis, zu den Galapagos-Inseln, über den Pazifik nach Tahiti, Neuseeland und Australien, zuletzt ums Kap der Guten Hoffnung nach Südafrika. Fünf Jahre, von 1831 bis 1836, brauchte der pausbackenbärtige Theologiestudent Charles Darwin als zahlender Passagier auf der Brigg „Beagle“ für diese Route.

Der Wissenschaftsjournalist und ehemalige GEO-Redakteur Jürgen Neffe hat sie heute für sein Buch „Darwin, das Abenteuer des Lebens“ in sieben Monaten zurückgelegt. Dabei wählte er möglichst ähnliche Verkehrsmittel wie sein Vorbild: Frachtschiffe, Fischerboote und Pferde.

Der Autor begegnete dabei Fischern, Kameraleuten und Chauffeuren, wurde zum Zeugen ihrer Tagewerke, Liebesgeschichten und Schießereien. Das Resultat sind zwei miteinander verflochtene Bücher in einem: überraschungsreicher Abenteuerreisebericht und Darwin-Biografie. In seinen Reportagen aus den von Darwin besuchten Regionen zitiert Neffe in Kursivschrift Beobachtungen aus dessen Reisetagebüchern. Wir erfahren daher von Ort zu Ort, um wie viel besiedelter oder verwüsteter die Welt seither geworden ist und um wie viel weniger auf ihr jene Natur waltet, in der Darwin die Gesetze seiner Theorie fand.

Die inneren Konflikte des großen Naturwissenschaftlers bilden neben genauen Schilderungen seines Alltagslebens das Thema von Matthias Glaubrechts biografischem Porträt „‚Es ist, als ob man einen Mord gesteht‘ – ein Tag im Leben des Charles Darwin“. Glaubrecht ist Evolutionsbiologe und leitet die Abteilung „Forschung“ im Berliner Museum für Naturkunde. Den Titelsatz des Buches äußerte Darwin in einem seiner zahlreichen Briefwechsel mit Kollegen. Durch eifriges Networking versuchte er, seinem Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ öffentliche Zustimmung zu sichern. Dies war bitter nötig, denn „gemordet“ wurde darin der Schöpferglaube. Die heute bekannten Arten, einschließlich des Menschen, sind Darwin zufolge keine Endprodukte, sondern nur Momentaufnahmen, die sich in einem langsamen Entwicklungsprozess durch natürliche Selektion aus verschiedenen Varianten entwickelt haben.

Zwingend gegen Gott sprach seine Theorie in den Augen Darwins aber auch nicht. Zum Atheisten wurde er aus privaten Gründen. Von den zehn Kindern des begüterten Privatgelehrten starben drei. Jeden dieser Tode empfand er wie den eines Einzelkindes. Spätestens als seine Lieblingstochter Annie im Alter von zehn Jahren qualvoll an Tuberkulose starb, beschloss der Forscher, besser nicht an Gott zu glauben, da es sich sonst um einen bösartigen Tyrannen handeln müsse.

Gewissensbisse empfand Darwin offenbar auch an dem im Untertitel erwähnten Tage in seinem Leben, am 15. Juli 1858, als vor der berühmten Londoner Linnean Society ein kurzer Abriss seiner bisher noch unveröffentlichten Theorie gemeinsam mit einem druckreifen Manuskript des jungen Forschungsreisenden Alfred Russel Wallace vorgelesen wurde. Der war inzwischen – wenn auch viel weniger elaboriert – zu fast denselben Schlüssen gelangt. Darwins Freunde hatten den Event arrangiert, um seine Erstautorenschaft zu sichern.

Wie ein nach Stichworten gegliederter Reiseführer durch Darwins Theorien und Theorien über Darwin liest sich das Buch „Tatsache Evolution – was Darwin nicht wissen konnte“, von dem Evolutionsbiologen und Physiologen Ulrich Kutschera. Vor allem eines stellt Kutschera klar: Der ideologisch überfrachtete Begriff „Darwinismus“ gehört nicht in die Wissenschaft. Die Evolutionsbiologie ist heute ein System zahlreicher Theorien aus den Bio- und den Geowissenschaften. Davon ausgehend untersucht das Buch, wo Darwin irrte, wo er recht hatte und wo man ihn heute falsch interpretiert.

Der von Darwin in Bezug auf den Daseinskampf benutzte Ausdruck „survival of the fittest“ zum Beispiel wurde ins Deutsche als „Überleben des Stärkeren“ übersetzt, bezeichnet aber das Überleben des am besten Angepassten. Sich anpassen an neue Umstände – das war auch Darwin schon klar – können Lebewesen auch, indem sie kooperieren. In einem seiner 16 Bücher untersucht Darwin die Mimik bei Mensch und Tier und beschreibt das Einfühlungsvermögen in andere als eine der wichtigsten Überlebensbedingungen für Säugetiere.

Überhaupt nicht bekannt war dem britischen Gelehrten dagegen der Vorgang der Mutation als Ursache für Veränderungen des Erbguts. Er behalf sich mit der Annahme, der ständig gleiche Gebrauch bestimmter Organe führe zu Verformungen, welche sich dann weitervererben – ein glatter Irrtum.

Die moderne Genetik bestätigt dafür die Haupttheorien Darwins. Sie beweist endgültig: Alle Lebewesen haben sich durch natürliche Selektion aus einer einzigen Urform auseinanderentwickelt. Diesen Baum des Lebens können wir heute immer besser nachzeichnen. Viele der dabei gewonnenen neuen Erkenntnisse sollten ab sofort zur Allgemeinbildung gehören. Zum Beispiel, dass die nächsten Verwandten der Nilpferde nicht Schweine sind, sondern Walfische. Und die wiederum haben ihrer genetischen Ausstattung zufolge als Vorfahren – Paarhufer.

Darwin beobachtete einmal einen Bären, der in einem Fluss nach den Larven von Wasserinsekten schnappte. So mögen es auch die Paarhufer gehalten haben, welche sich als Ahnengruppe für Walfische qualifizierten.

Matthias Glaubrecht: „Es ist, als ob man einen Mord gesteht. Ein Tag im Leben des Charles Darwin“. Herder Verlag, Freiburg 2009, 272 Seiten, 17,95 Euro Jürgen Neffe: „Darwin – Das Abenteuer des Lebens“. C. Bertelsmann Verlag, München 2009, 544 Seiten, 22,95 Euro Ulrich Kutschera: „Tatsache Evolution. Was Darwin nicht wissen konnte“. DTV, München 2009, 340 Seiten, 14,90 Euro