ein amerikaner in berlin
: ARNO HOLSCHUH über Schlüsseldienste

Die Tempelhofer Mauer

Ich habe Probleme mit Schlüsseln. Schließlich habe ich jahrelang in amerikanischen Kleinstädten gewohnt, wo man die Tür gar nicht abzuschließen braucht. Für Normalberliner ist es ein ganz natürlicher, unerlässlicher Teil des täglichen Abschieds von zu Hause: sicherstellen, dass man seinen Schlüssel hat. Für mich ist das fremd.

Mein Unterbewusstsein betrachtet Schlüssel immer noch als entbehrlich. So kam es, dass ich mich im Laufe eines Jahres viermal ausgeschlossen habe. Als ich noch in Kreuzberg wohnte, war das halb so wild. Dreimal stand ich vor der Tür, dreimal wurde sie von einem netten, günstigen Schlüsseldienst geöffnet. Der Schlüssel lag stets auf meinem Schreibtisch.

Beim letzten Mal, als ich unten im Imbiss Wechselgeld für den Schlosser holte, bot mir ein Gast gar an, meine Tür für ’nen Zehner zu knacken. Ich lehnte höflich ab, weil der Typ aussah, als könnte er ein paar verpfändbare Sachen gebrauchen.

Seit drei Monaten aber wohne ich in Tempelhof, und alles ist anders. Mein Mietshaus ist eine Festung: Die Haustür ist nachts verschlossen, mit einem echten, funktionierenden Schloss. In Kreuzberg reichte ein gezielter Tritt, und die Haustür war offen. Schlimmer aber ist, dass das Grundstück mit einem Zaun umgeben ist, samt Stacheldraht und Eisenspitzen: Die Tempelhofer Mauer. Sie sieht aus, als hätten die Architekten gehofft, die Anwohner könnten sich im Kriegsfall gegen die Angriffswellen von NVA-Infanteristen behaupten.

Als ich neulich merkte, dass mein Schlüssel statt in der Tasche mal wieder auf dem Schreibtisch lag, rief ich den Schlüsseldienst erst gar nicht an. Wie sollte ein einfacher Schlosser mit der Festung Tempelhof fertig werden? Ich hatte Zweifel. Zudem war ich buchstäblich pleite. Also was tun?

Mit etwas Geschick könnte ich bis zur Haustür durchdringen, denn die Mauer hat auf der Westseite einige Lücken, wahrscheinlich Fluchtwege für die Belagerten. An der Haustür gibt es Klingeln, dort könnte ich meinen Mitbewohner wecken. Dafür ist er ja da! Dumm nur, dass er in dieser Tempelhofer Stille nachts Ohrstöpsel trägt. Nicht mal auf Telefonklingeln erfolgt eine Antwort.

Ich wartete eine halbe Stunde, rauchte eine Zigarette nach der anderen und sehnte mich nach einer Leuchtrakete mit eingebauter Luftangriffsirene. Da entdeckte ich das Gebüsch: Dicht, grün und dunkel, mit gerade mal genug Platz unter den niedrigsten Ästen, um mich verstecken zu können. Schließlich war ich von dem ganzen Denken und Dauerklingeln sehr müde.

Ich schlich an den Rand des Todesrasens, kroch unters Gebüsch und legte mich dösen. Plötzlich fing es an zu regnen. Zuerst versuchte ich, das Wasser zu verleugnen. Dann stampfte ich klatschnass zur U-Bahn und fuhr zurück nach Kreuzberg, um bei Freund Axel auf dem Sofa zu pennen. Als ich seine Wohnung eine halbe Stunde später betrat, sah er mich schlaftrunken an und sagte: „Hab’ mich schon gefragt, wie lange es dauert, bis du zurückkommst. Hast nämlich deine Schlüssel hier vergessen.“ Ich habe eben Probleme mit Schlüsseln.

ARNO HOLSCHUH, 27, ist amerikanischer Journalist und lebt als Stipendiat für ein Jahr in Berlin