Plattenvertrag gekündigt

Das Orwo-Haus in Marzahn ist der lauteste Plattenbau Berlins: In dem DDR-Industriegebäude machen 80 Bands Musik. Die TLG Immobilien hat ihnen jetzt gekündigt, weil der Brandschutz nicht reicht. Das Aus für das einzigartige Jugendzentrum?

VON OLIVER TRENKAMP

Plattenbauten, so weit das Auge reicht, breite Straßenzüge, verlassene Industriebauten. Marzahn ist ein trostloser Bezirk. Ganz Marzahn? Nein, ein Haus leistet der Tristesse Widerstand. Im Orwo-Haus, einem alten DDR-Industrieplattenbau, haben sich Bands aus ganz Berlin zu einem Musikerzentrum zusammengefunden. Sie haben hier ihre Proberäume, einige sogar eigene Studios. Doch jetzt steht ein Kahlschlag in Sachen Jugendkultur bevor: Da Brandschutzmaßnahmen nicht eingehalten wurden, kündigte der Vermieter, die TLG Immobilien, den Bands. Sie ist aus der Treuhand hervorgegangen und schiebt die Verantwortung dem Bezirk zu. Das Bezirksamt will den schwarzen Peter aber nicht und fordert die TLG auf, ihre Vermieterpflichten zu erfüllen und zu sanieren.

Der Geruch von Fotochemikalien hängt noch in der Luft. Hier wurde einst Fotopapier hergestellt, das Beste in der DDR. Nach der Wende stand das Gebäude lange leer. Seit fünf Jahren wird aber wieder entwickelt – und zwar Musik. Punkbands proben hier neben Klavier spielenden Musikstudenten. Die jungen Musiker haben hier bezahlbare Räume gefunden. Mit knapp drei Euro pro Quadratmeter können andere Proberäume in Berlin nicht mithalten. Dort zahlen Bands bis zu fünfmal so viel.

Dropped ist eine der Bands, die im Orwo-Haus täglich proben. Die vier Jungs haben sich ihren Raum selbst eingerichtet: zwei alte Sofas, Schlagzeug, mehrere Verstärker und – Sex gehört halt zum Rock ’n’ Roll dazu – Poster mit nackten Frauen an den Wänden. „Wir sind seit einem Dreivierteljahr hier“, sagt der 20-jährige Gitarrist Michael Hoge, „woanders können wir uns die Miete nicht leisten.“ Bassist Christoph Sasse schätzt zudem die Möglichkeit, andere Musiker zu treffen. Er spielt gleich in zwei Bands. Nach den Proben mit Dropped geht er zwei Etagen höher und arbeitet mit einer Keyboarderin, einer Sängerin und einem Gitarristen an neuen Songs und Projekten.

Felix Geisler arbeitet als Koch, wenn er nicht im zweiten Stock des Orwo-Hauses sitzt und an neuen Produktionen feilt. Seine Band T.Core perfektioniert ihre Songs im eigenen Studio. Durch den Tipp eines Freundes sind sie schon vor vier Jahren auf den Plattenbau aufmerksam geworden. „Damals bestand unser Studio aus einem Kassettenrekorder“, sagt Felix. „Wir haben alles nach und nach aufgebaut.“ Mittlerweile wirkt es professionell. Mehrere Bildschirme und Mischpulte stehen auf dem selbst gebauten Produktionstisch. Davon profitieren auch die anderen Bands. Die können das Studio gratis mitbenutzen.

Das bunte Leben im Orwo-Haus steht nun vor dem Abgrund. Bauaufsicht und Feuerwehr hatten erhebliche Mängel beim Brandschutz festgestellt. Im Normalfall, beispielsweise bei Wohnhäusern, müsste der Vermieter solche Mängel beseitigen. Die TLG Immobilien allerdings kündigten den Bands außerordentlich. Daraufhin schaltete sich der Bezirk ein. Bei einem Treffen von einigen Musikern, dem Vermieter, der Bauaufsicht und der Jugend-Bezirksstadträtin Manuela Schmidt wurde vor einer Woche nach Lösungen gesucht. Zwei Wege sind im Gespräch: Die Musiker kaufen das Gebäude und sanieren es selbst – oder sie mieten es langfristig, garantieren eine hohe Auslastung, und die TLG saniert.

Für beide Möglichkeiten müssen sich Bands und Musiker zu einem Verein zusammenschließen. Das passiert gerade. Andreas Otto, Musiker und Aktivist für die Erhaltung des Hauses, sagt: „Selbst eine vorübergehende Schließung des Hauses wäre eine Katastrophe. Wir wollen als Verein das Haus langfristig mieten.“ An dieser Lösung hat die TLG offenbar wenig Interesse: „Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen und wollen einen rentablen Portfoliomix“, sagt Günter Sölken von der TLG. Ein reines Musikerhaus sei „wirtschaftlich nicht interessant“. Ein Verkauf sei für die Firma attraktiver. Preise wolle man aber nicht nennen.

Im Bezirksamt ist gerade eine „Nutzungsuntersagung“ in Arbeit. Ob sie tatsächlich wirksam wird, hängt noch von einer Rechtsprüfung ab. Dann wäre sofort Schluss. Der zuständige Stadtrat Svend Simdorn fordert die TLG jedoch auf, „endlich ihre Vermieterpflichten zu erfüllen“ und zu sanieren. Es gebe den politischen Willen, das Haus für die Jugendlichen zu erhalten.

Die Bands im Orwo-Haus geben den Widerstand gegen die Trostlosigkeit nicht auf. Am Samstag veranstalten sie ein Soli-Konzert in Marzahn (siehe Kasten).