Die Augen weit geschlossen

Da hilft kein Feminismus mehr: Marie-Sissi Labrèches schrecklich penetranter Roman „Er“

Männer werden Literaturprofessoren, Frauen schreiben über sie – und lassen sich von ihnen ficken. Das ist der Stand der Emanzipation, auf den sich Marie-Sissi Labrèche mit ihrer Heldin Emily-Kiki Labrèche in „Er“ begibt. Nach den ersten zwanzig Seiten möchte man den Roman, also „Ihn“, in tausend Stücke zerreißen und sich ein paar Stunden mit Alice Schwarzer unterhalten, um zu hören, dass der Feminismus nicht kläglich gescheitert ist. Aber die abstoßende Penetranz ist ja genau der Punkt.

Kiki hat eine Affäre mit ihrem Literaturprofessor und Kafka-Spezialisten Tchéky, kleinbürgerlicher Ehemann und möchtegernsorgsamer Vater. Sie verspinnt sich immer mehr in (sexuelle) Abhängigkeit und Selbsthass, denn im Grunde genommen ist Labrèches Heldin ein kaputtes Ding, das Liebe mit Sex verwechselt. Ihre besten Freunde und Tröster sind Sexualpartner, die die innere Leere füllen sollen. Doch je weiter sie die Beine spreizt, desto weniger funktioniert es im Bett. Ein Kind scheint die ultimative Lösung, ihr Defizit wieder auszugleichen, und sie wirft sich an den nächsten „Monsieur“.

Vier paradoxe Überschriften, ähnlich kafkaesken Aphorismen, fassen die simple Handlung zu einer grotesken Fabel zusammen – etwa „Die Kanonenfrau im Löwenkäfig“ – und spiegeln auf surreale Weise ein Innenleben voller Widersprüche. „Er“ ist ein 180 Seiten langer innerer Monolog, der von A bis Z um Tchéky kreist. Diese Erzählperspektive im Stile von Schnitzlers „Fräulein Else“ erlaubt der kleinen Heldin, bei aller Selbsterniedrigung und Aufopferung Subjekt zu bleiben. „Eyes wide shut“ könnte man diesen Zwischenzustand nennen. Obwohl das meiste unausgesprochen bleibt und Kiki von Hasstiraden auf den patriarchalen Professorenclan nur träumt, hat der Monolog einen Adressaten: den Leser. Doch sein Voyeurismus bleibt lahm gelegt.

Ebenso wenig lädt die vulgäre Sprache zu etwaigen Gelüsten ein. Die körperliche Wirklichkeit rückt so nahe, dass es zum Weglaufen ist. Aber „Er“ ist nicht pornografisch: Selbst erotische Literatur spielt noch mit dem Ver- und Enthüllen des Körpers; Labrèche verdirbt einem jeden Spaß.

In „Er“ reichen sich Popliteratur und Dekonstruktion die Hand. Zwar werden mehr Songs als Kafka zitiert, doch leistet die Autorin auch feministische Arbeit. Die ganze Mädchenkinderzimmer- und Märchenwelt, in der aller Anfang der Geschlechterlüge liegt – ein einziger Graus. Mit viel Selbstironie bevölkert Kiki ihre Welt mit Clowns, die eigentlich Harlekins sind. Diese Verniedlichung macht die Identifikation mit dem Klischee unmöglich, und nach viel selbstquälerischem Masochismus stößt die Scheinheiligkeit der Liebesidylle im letzten Teil erst richtig auf.

„Er“ liest sich wie eine Fortsetzung von Labrèches erstem Roman „Borderline“, ebenfalls ein innerer Monolog über Lust und Unlust im Bett einer Neurotikerin mit verlorener Kindheit. Aus Sissi wird Kiki, aus der Vagina ein „Schlitz“, und das Spiel mit der Autofiktion steigert sich zur Parodie: Der vorliegende Roman ist zugleich Tagebuch der Heldin. Die Autorin liefert ein Fremdbild als Selbstporträt und entzieht sich wie ihr Schützling jedem einordnenden Blick. Was mit einem Prolog begann, endet nun mit dem Epilog. Nur: Wo die Heldin ihre Suche nach einer Vaterfigur längst durchschaut hat und nüchtern ihren Ödipuskomplex diagnostiziert, wird jedes Therapeutengespräch überflüssig. Und vor dem platten Hintergrund einer perversen Kindheit wirken feministische Parolen wie ein Hohn auf reale Grausamkeit. Für Labrèches Protagonistin ist die Emanzipation nur ein neuer Zwang. So gönnt man der Heldin am Ende ihr eigentümliches Fünfzigerjahre-Ideal sowie ihre süßen Kinder-Fetische – und sei es nur ein Penisersatz. MARION DICK

Marie-Sissi Labrèche: „Er“. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Kunstmann Verlag, München 2004, 180 Seiten, 16,90 Euro