Vertikal radikal

Sich maskieren, sich in der Masse behaupten: Unter dem Titel „The whole world is watching“ porträtiert der Fotograf Andreas Böhmig in der Galerie in der Brotfabrik den Protest und seinen vergeblichen Wettlauf mit dem Mainstream

Kleider machen Leute, das weiß schon das Märchen. Unsere Kleidung, auch Frisur oder Tätowierungen, sind Zeichen, die gelesen werden wollen. Und auch wer gegen Globalisierung und Markenwahn protestiert, bleibt kein unbeschriebenes Blatt. Andreas Böhmigs Fotografien, zurzeit in der Galerie der Brotfabrik zu sehen, zeigen die Semiotik des Protests, aber auch, dass der scheinbare Individualismus der Protestierenden und die Uniformität der Polizei weniger weit auseinander liegen, als man gemeinhin denkt.

Zu sehen sind zwei als Diptychon gehängte Rückenansichten: Die eines Polizisten – grüngepolsterte Uniform und Schlagstock – und die eines Protestlers – knallrotes T-Shirt mit Che Guevara und Jeans. Sie nehmen dieselbe Pose ein, haben denselben hochrasierten Nacken – hier finden Gegensätze in einer seltsamen rot-grünen Koalition zusammen. Protest hat immer mit Selbstinszenierung zu tun, mit Sichverkleiden, mit Maskierungen; und das nicht nur, um der staatlichen Erfassung zu entgehen, sondern auch, um die internationalen Medien auf sich aufmerksam zu machen. Die Dialektik von Protest und Schick, der Versuch der Globalisierungsgegner, den Vorsprung im Wettlauf der Zeichen zu halten und den Mainstream weiterhin abzuhängen, illustriert die grobkörnige Reproduktion einer „Diesel“-Werbung, die Andreas Böhmig in Agitprop-Manier zwischen seine Bilder hängt.

Der Eingriff an dem Bild von lauter schönen Teenagern in schönen Jeans, die sehr lässig Plakate schwingen, ist klein, aber entscheidend. Der Markenname ihrer Kleider wurde vom Künstler durch die Worte ersetzt: „Action – for successful living“. So kann der Protest für einen Moment zurückerobert werden – auch wenn die erneute Aneignung unausweichlich scheint.

Wer Aktion in den Bildern Andreas Böhmigs erwartet, wird allerdings enttäuscht. Obwohl es ihnen um das Karnevaleske am Protest geht, zeigen sie nie Überschreitung. Sogar ein brennender Helm provoziert keine Bewegung bei den Demonstranten. Der Blick auf den Protest ist ein porträtierender, isolierender – ein Blick auf den Einzelnen.

Ein Großteil der Bilder zeigt Männer in voller Montur, den ganzen Körper oder nur den Torso, von vorn oder von hinten – das erinnert ein wenig an die Fotoarbeiten eines Wolfgang Tillmans. Dabei fällt zum einen das durchgängige Hochformat der Bilder auf, ein Verweis auf die Porträttradition, zum anderen eine Vorliebe für die Senkrechte auch bei den Motiven – sei es ein Pfeil auf dem Verkehrszeichen in Florenz, die Zahl eins auf einem T-Shirt, ein Schlagstock oder ein Oberarm mit Che-Tattoo.

Dieser Wald von Vertikalen will nicht erst seit Jacques Derridas Kritik an den verdeckten Wertungen in der westlichen Sprach- und Denktradition gedeutet werden. Die Betonung der Senkrechte wirkt wie ein Schutz vor Auflösungsängsten in der Menge, anders gesagt: als Abwehrzauber gegen die Kastration. Denn seit ihrer Entstehung in den Metropolen des 19. Jahrhunderts wird die Masse als weiblich imaginiert. Charles Baudelaire zum Beispiel wandte sich schaudernd ab von „la foule“ und setzte ihr den Einzelnen, den Flaneur, entgegen. In der Menge kann sich dieser – männliche – Einzelne nur als Individuum behaupten.

In der Ausstellung wirkt die Aneinanderreihung der statischen Porträts auf die Dauer allerdings irgendwie ermüdend und auch etwas zu symbolisch. Zeit, sich an das Motto einer sehr viel entspannteren Protestbewegung zu erinnern und die Vertikale in der Horizontalen zu erlösen: Make love not war.

ULRIKE MEITZNER

„The whole world is watching“, bis 31. Juli, Mi–So 16 bis 21 Uhr, Galerie in der Brotfabrik, Caligariplatz, Prenzlauer Promenade 3, Prenzlauer Berg