ein brief von s. farhat-naser
: Beide Völker leiden

Liebe Freunde,

nach langem Schweigen grüße ich euch aus Bir Zeit, Jerusalem ist sehr nahe und doch sehr fern, denn die Mauer gewinnt an Gestalt und Wirkung.

Ohnmacht, Angst und Verzweiflung drohen uns zu erdrücken. Gefühle, ausgestoßen, ausgeliefert zu sein, Verluste, Demütigung und Entbehrung greifen unser Selbstwertgefühl an. Sie schlagen oft um in Wut, Zorn, Radikalismus und Fanatismus. Ich spüre den gewaltigen Druck, der uns alle im Griff hält. Aggressivität in den Familien, auf der Straße, unter Jugendlichen, Kindern und Erwachsenen nimmt zu und vergiftet Verbundenheit und Vertrauen.

Israelische Militärbesatzer, sie, die Machthaber, bestimmen über unser Land, über uns Menschen und unsere Zukunft. Unsere Völker befinden sich auf dem Höhepunkt des Konflikts, weit wie noch nie entfernt voneinander in Sache Frieden. Ausgerechnet jetzt diktiert die eine Seite allein, was der anderen Seite übrig bleibt, was sie zu akzeptieren hat. Niemals kann diese Regelung die Grundlage für Frieden sein. Sie führt im Gegenteil zur Vertiefung der Feindseligkeit. Solange die Besetzung andauert, wird der Widerstand sich steigern.

Das Problem ist, dass die meisten Israelis den Zusammenhang zwischen Besetzung und Widerstand nicht sehen. Aber auch die Palästinenser wollen immer weniger einsehen, dass auch die Israelis leiden, Angst haben, dass viele nicht wissen, was bei uns geschieht. Beide Völker leiden, beide verlieren, auch an Menschlichkeit.

Das Leben und die Zukunft der Menschen werden nicht von Recht oder Moral geprägt, sondern von Macht und Einfluss. Die Verletzung von Menschenrechten und Völkerrecht wird nicht mehr wahrgenommen. UN-Resolutionen, unterschriebene Verträge und Friedenspläne verlieren ihre Glaubwürdigkeit, weil Fakten geschaffen werden, um sie zu vereiteln, sie zu verunmöglichen. Die Mächtigen der Welt schweigen, und wenn sie sich doch, meist spät, bewegen, dann bemühen sie sich, diese zu Unrecht geschaffenen Fakten zu rechtfertigen und sie als Teil von Friedensverhandlungen zu interpretieren, zu integrieren. So wird scheinbar legitim, was illegal ist.

Militärinvasion, Landnahme, Hauszerstörungen und gezieltes Töten sind heute Alltagsereignisse in unserem Land. Das Anormale wird Gewöhnungssache, und das Böse wird relativiert.

In ständiger Anspannung fürchten wir das Ungewisse, das Schreckliche. Der Zufall bestimmt, wann, wo und in welchem Ausmaß das Unheil einen trifft. Schüsse, Bomben und Raketen wüten um uns herum. Viele Menschen werden obdachlos gemacht, arbeitslos gehalten, sind physisch und psychisch gebrochen. Die Mauer trennt nicht nur Israelis und Palästinenser, sondern auch Palästinenser von Palästinensern, ihre Häuser von ihrer Feldern und Arbeitsplätzen. Die Mauer verwandelt das Land in Ghettos. Wachtürme und Eisentore kontrollieren und bestimmen Tempo und Frequenz der Bewegung der Palästinenser. Ein normales Leben kann so niemals funktionieren, geschweige denn ein Staat.