Mauer am falschen Ort

Der Haager Gerichtshof sieht im Verlauf der israelischen Sperranlage die De-facto-Annexion eines Teils von Palästina

VON CHRISTIAN RATH

Der Richterspruch ist nicht bindend, hat aber eine hohe symbolische Bedeutung. Gestern verurteilte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag den Bau einer israelischen Sperranlage auf besetztem Gebiet. Der Verlauf des Sicherheitszauns verstoße gegen Völkerrecht, deshalb müsse der Bau gestoppt und der fertig gestellte Teil der Anlage abmontiert werden.

Im April 2002 beschloss die israelische Regierung den Aufbau einer rund 700 Kilometer langen Sperranlage aus Zäunen, Gräben und Mauern. Sie soll es palästinensischen Terroristen unmöglich machen, nach Israel zu kommen. Umstritten ist vor allem der Verlauf des Zauns im besetzten Westjordanland.

Im Dezember letzten Jahres forderte die Generalversammlung der Vereinten Nationen ein Gutachten des IGH zu den rechtlichen Konsequenzen des Zaunbaus an, das gestern Nachmittag in Den Haag vorgestellt wurde. Das Gutachten erging fast einstimig. Der UNO-Gerichtshof unter Vorsitz des Chinesen Shi Jiuyong entschied mit 14 zu 1 Stimmen gegen Israel. Die Gegenstimme kam vom Amerikaner Thomas Buergenthal.

Konkret geht es bei dem Richterspruch nicht um die Frage, ob Israel eine Sperranlage zum Schutz seiner Grenze bauen darf, sondern darum, ob diese auf besetztem Gebiet verlaufen darf. Nach Feststellung des Gerichtshofs ist der Zaun so weit in das von Israel besetzte Westjordanland vorgeschoben, dass 16 Prozent des palästinensischen Gebiets auf der israelischen Seite der Anlage liegen. In diesem Gebiet wohnen nach IGH-Angaben 237.000 Palästinenser. Weitere 160.000 Palästinenser wohnen in rundum eingezäunten Gebieten.

Nach Ansicht des Gerichtshofs verstößt der Bau der Sperranlage daher gegen die 4. Genfer Konvention und das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung. Der Bau des Sperrzauns auf besetztem Gebiet laufe auf eine „De-facto-Annexion“ des Gebiets hinaus – zumal auch 80 Prozent der israelischen Westjordanland-Siedler (etwa 320.000 Personen) in dem Streifen zwischen Zaun und Grenze leben. Israel hatte immer betont, die Sperranlage werde nach Ende des Konflikts wieder abgebaut.

Eine Rechtfertigung des Zaunverlaufs konnte der IGH nicht erkennen. Der Bau auf besetztem Gebiet könne weder mit militärischen noch sonstigen Sicherheitserfordnissen begründet werden. Auch Israels Recht auf Selbstverteidigung helfe hier nicht weiter.

Zahlreiche EU-Staaten, darunter Deutschland, hatten den Gerichtshof im Frühjahr aufgefordert, kein Gutachten zu erstattetn, weil die zu entscheidenden Fragen „politisch“ seien. Ein gegen Isreal gerichtetes Rechtsgutachten werde nur zu verhärteten Fronten im Nahostkonflikt führen. Diese Sichtweise wiesen die Richter nun ausdrücklich zurück. Auch wenn die Anfrage politisch motiviert war, habe sie doch eindeutig „juristischen Charakter“. Es habe jedenfalls „keinen zwingenden Grund“ gegeben, auf ein Gutachten zu verzichten.

Wie es nun weitergeht, lässt der Gerichtshof offen. Vielmehr werden Sicherheitsrat und Generalversammlung der UNO zu Überlegungen aufgefordert, wie auf die illegale Situation reagiert werden soll. An die Mitgliedstaaten der UNO appellierten die Richter, keine Hilfe beim Bau der Sperranlage zu leisten.