Alles nur Nachtgespenster?

betr.: „Dämonen nachts um drei“, Das Schlagloch von Michael Rutschky, taz vom 7. 7. 04

Schlaglöcher sind in aller Regel Straßenteile, bei denen der Belag oder zusätzlich ein Teil des Unterbaus fehlt. Bei allen Benutzern von auf Rädern laufenden Verkehrsmitteln sind sie gefürchtet, weil die Achsenbelastung durch das Fallen in das Loch so hoch werden kann, dass diese bricht.Welche Dämonen haben Michael Rutschky eigentlich nachts um drei dazu getrieben, in ein so tiefes Schlagloch zu fallen, dass seine Denkachse einen heftigen Drall bekam und er in der Finsternis des Lochs kein Licht mehr erblickte?

Ich verstehe: Mein rationales Bewusstsein am frühen, sonnigen Morgen bestimmt die Höhe meiner Subsistenzmittel. Klar, hatte das nicht Marx schon gesagt: Das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt das Sein? Der Dämon der Angst vor Verarmung ist ausgetrieben, wenn ich eine Nacht nach dem Lesen meines Kontoauszugs schlafe. Am nächsten Morgen sieht alles ganz anders aus. Der Unterschied zwischen der von Rutschky als rational angepriesenen Befürchtung des Flugzeugs auf den Kölner Dom et cetera und der Angst vor der Verarmung ist der, dass Letztere rund fünf Millionen Menschen heute trifft, während die Geschichte mit dem Flugzeug noch hypothetisch ist. Hartz IV ist meines Wissens keine Schimäre, und die Folgen für die Betroffenen hat vorsichtshalber noch niemand ausgerechnet. In der taz war letzthin angedeutet, dass auch für Hartz-IV-Bezieher der angemessene Wohnraum sich an die bisherigen Standards für Sozialhilfeempfänger angleichen könnte. Alles eine Frage des Bewusstseins?

Ein zunehmend größerer Teil der europäischen Bevölkerung wird in den Schlaglöchern der globalisierten Gewinnmaximierung stecken bleiben. Herr Rutschky wird sie dann trösten: alles nur Nachtgespenster! Und das in der taz. Auf zu neoliberalen Ufern. Hoch lebe die internationale Finanzdienstleistung!

WILFRIED BÜNTZLY, Hamburg

Rutschky suggeriert, was bei uns als Armut firmiert, sei nichts anderes als eine Charakterschwäche, so etwas wie z. B. der Neid auf den Mercedes des Nachbarn. „Angst vor Schwund und Verlust“ ist jedoch spätestens dann kein „Phantasma“ mehr, wenn der Bezug des kargen Arbeitslosengeldes II nächstes Jahr an die Bereitschaft zu jeglicher Arbeit geknüpft ist: Arbeitsarmut – also nicht einmal mehr Zeitreichtum; was Armut ausmacht, ist vor allem Unfreiheit; scheußliche Jobs ohne Perspektive – und das Arbeitslosengeld II ist noch lange nicht das untere Ende der geplanten sozialen (Ent-)Sicherung, wie die mutigen ModernisiererInnen der Unions-Parteien wissen lassen.

„Volkswirtschaftliche Kenntnisse“ vermitteln den verwaschen Denkenden die Bestätigung, dass dies alles für die Betroffenen zwar hart, aber leider unumgänglich und alternativlos sei. Die Minderheit der etwas präziser Denkenden hingegen gelangen mit – übrigens recht ähnlichen – „volkswirtschaftlichen Kenntnissen“ zu der Einsicht, dass der immense Anstieg der Arbeitsproduktivität tatsächlich Reichtum sein könnte: der Reichtum, der darin besteht, dass Arbeit immer überflüssiger wird. Eine langfristig gesicherte (neudeutsch: „nachhaltige“) Umverteilung von den höheren Einkommen zu den Einkommensschwächeren könnte die Armut abschaffen, könnte den Zwang zu scheußlichen Jobs (und infolge dessen perspektivisch diese scheußlichen Jobs selber) abschaffen, und das auch, ohne fies und gemein den Rathausangestellten die goldenen Kettchen und Ringe wegzunehmen. ROBERT ULMER, Berlin

Leider handelt es sich bei den Ängsten und Sorgen der Arbeitslosen nicht um „Phantasmen“ oder „Nachtmären“, sondern um sehr konkrete Anlässe zur Sorge, die sich zumindest vermutlich ab Januar 2005 für die Arbeitslosen oder diejenigen, die es werden, einstellen. Ein Autor wie Michael Rutschky braucht sich davor natürlich nicht zu fürchten, aber diese Sorgen als „Phantasmen“ abzutun, halte ich für zynisch. HELGA SCHNEIDER-LUDORFF, Oberursel

Alle, die demnächst in den Genuss von „Hartz IV“ kommen, werden Michael Rutschky dankbar sein für seine analytischen Betrachtungen. Ihre Angst macht sich fest an statistischen Rechnungen, nährt sich aus einem Folklore gewordenen Marxismus, speist sich aus nicht vorhandenen volkswirtschaftlichen Kenntnissen, ist ein Fantasieprodukt den sozialen Abstieg fürchtender WohlstandsbürgerInnen.

Derlei Erkenntnisse über die „subjektive“ Angst ändern zwar nichts an den „objektiven“ Tatsachen, die zur Verarmung der Betroffenen führen werden – doch schön, dass wir mal darüber gesprochen haben! UWE TÜNNERMANN, Lemgo

Lieber Herr Rutschky, so sympathisch mir ihr Herumhacken auf unreflektiertem Linkssein auch sein mag: Dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden, ist nicht nur „Folklore gewordener Marxismus“, sondern häufig genug belegte Tatsache. Sollten (als empirische Befunde) die Ergebnisse der letzten Ausgrabungen bei Pompeji nicht ausreichen, versuchen Sie es doch einmal mit den mathematischen Gesetzen für „Skalenfreie Netze“ (Spektrum der Wissenschaft, Juli 2004). Ob im Internet oder in beliebigen Gruppen: Immer gibt es ein paar wenige, die absahnen, und die große Masse derer, die nahezu leer ausgehen. Mathematiker sprechen in diesem Zusammenhang von einer Bestätigung des Satzes aus dem Matthäus-Evangelium „Wer hat, dem wird gegeben.“ Das gewöhnliche Ergebnis ist eine exponentiale Verteilung mit dem Faktor 2 bis 3, also extreme Unterschiede zwischen „oben“ und „unten“.

Der soziale Sprengstoff der Theorie skalenfreier Netze scheint mir darin zu liegen, dass sich unter der Bedingung doppelter Kontingenz, also von Wahlfreiheit beider Seiten, zwangsläufig Ungleichheit ergibt – sodass, wie Plato und Thomas Moore es vermuteten, sich Gleichheit (wenn überhaupt) nur durch Unfreiheit erreichen lässt. In Niklas Luhmanns allgemeiner Theorie sozialer Systeme ist Ungleichheit das normale Ergebnis von Evolution, deren „Ziel“ sich nur abstrakt formulieren lässt als „das Erreichen immer unwahrscheinlicherer Zustände“. Die Allgegenwart skalenfreier Netzwerke bestätigt diese Auffassung: Eine Gesellschaft ohne Ungleichheit ist Utopia (lat. für: gibt es nicht). BERNHARD BECKER, Duisburg

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