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Im Sarg aus Glas ist Stu nicht wohl

Ein Quadrameter Suspense: Joel Schumachers Film „Nicht auflegen“ spielt in einer Telefonzelle in Manhattan. Dem Protagonisten wird das aussterbende Stadtmöbel zur Falle – ein Schicksal, das er mit zahllosen Filmgangstern der Prohibitionszeit und mit der Hitchcock-Darstellerin Tippi Hedren teilt

von ANDREAS BUSCHE

Diese Geschichte handelt von einem langsamen Sterben und einem schnellen Tod – erzählt auf weniger als einem Quadratmeter. Alfred Hitchcock hatte Truffaut schon in den 60ern von seiner Vision berichtet, einen Film komplett in einer Telefonzelle zu drehen. Das war wohl mehr als Witz gemeint, aber die Idee war in der Welt. Eine Telefonzelle ist der perfekte Suspense-Ort. Der Mangel an Bewegungsfreiheit kann mürbe machen. Man kennt das aus eigener Erfahrung: Der Fuß steckt immer irgendwie in der Tür. Trotzdem entsteht in der geschlossenen Kabine für einen kurzen Augenblick so etwas wie ein privater Raum innerhalb der öffentlichen Sphäre. Der Mensch bleibt mit sich allein und steht doch unter Beobachtung. Er selbst beobachtet, was draußen vor sich geht, und ist zugleich vom Straßenleben ausgeschlossen. Erst der Tod führt alle wieder zusammen.

Denn Joel Schumachers „Nicht auflegen“ handelt von einer Ausnahmesituation, in der sich der private Raum für einige tödliche Stunden für die öffentliche Sphäre öffnet. Verleger-Hot-Shot Stu (Colin Farrell) steht in einer Telefonzelle mitten in Manhattan und telefoniert um sein Leben. Manchmal lässt er den Fuß in der Tür, um etwas von der Wirklichkeit in die kleine Glasbox strömen zu lassen. Und diese Wirklichkeit ist evident. Nicht nur die Augen der Öffentlichkeit sind auf ihn gerichtet (er kann sich in den Schaufenstern der umliegenden Geschäfte davon überzeugen, dass er die Breaking News aller wichtigen New Yorker Fernsehsender ist), sondern auch das Hochpräzisionsgewehr eines Snipers. Wenn Stu auflegt, ist er tot.

Vor den Augen der Welt soll er mit sich ins Reine kommen, die bittere Wahrheit seiner kümmerlichen Existenz verkünden: dass er ein Hochstapler ist, ein armseliger Wurm ohne Selbstachtung. Die Konsequenzen dieser Offenbarungen könnten allerdings biblische Ausmaße annehmen. Dem Einsatzleiter (Forest Whitaker), der ihn dazu bewegen will, aus der Zelle herauszukommen, brüllt Stu hysterisch ins Gesicht, dass er endlich verschwinden soll, dass diese kleine beschissene Telefonzelle momentan seine ganze Welt bedeutet und er sie nie wieder verlassen wird.

Es liegt ein leicht pathetischer Symbolgehalt in diesem irrationalen Ausbruch: die Telefonzelle als kalter Techno-Uterus, in den das ödipale Inviduum zum Schutz zurückkriecht – so etwas hat bisher noch niemand über die gemeine Großstadt-Telefonzelle gesagt. Zudem beruht diese etwas überhastete Aussage auch auf einer groben Fehleinschätzung. Denn kein Film hat die Behauptung, dass Telefonzellen dem Menschen Schutz liefern, je so niederschmetternd widerlegt wie „Nicht auflegen“. Auch in früheren Filmen sind Menschen in Telefonzellen gestorben – man erinnere sich nur an die frühen amerikanischen Gangsterfilme (aus irgendeinem Grund hat man dabei immer James Cagneys Knautschgesicht vor Augen), in denen aus vorbeifahrenden Wagen mit Maschinenpistolen auf Telefonzellen geschossen wurde. Die Telefonzelle war für den amerikanische Kleingangster der Prohibitionszeit die Todesfalle par excellence, besonders wenn die zweiteiligen Schiebetüren mit dem Politikteil der Sunday New York Times blockiert wurden.

Schumacher und sein Drehbuchautor Larry Cohen haben mit „Nicht auflegen“ diese Aura des Todes inmitten eines großstädtischen Panikraumes ikonisch überhöht. Cohen hatte hierfür sogar das schöne Bild des „gläsernen Sarges“ gefunden. So viel Beachtung hat die Telefonzelle sich verdient – gerade jetzt. Denn ihre Geschichte ist die Geschichte eines langsamen Sterbens, von dem „Nicht auflegen“ nebenbei erzählt. Wie Sitzbänke und überdachte Bushaltestellen ist die geschlossene Telefonzelle in den letzten zehn Jahren langsam aus dem Straßenbild neoliberal gewarteter Innenstädte verschwunden – zugunsten praktischer wie hässlicher Telefonsäulen. Stus Telefonzelle an der Ecke von 53. Straße und 8. Avenue, so wird uns im Prolog erzählt, sei die vielleicht letzte Telefonzelle an der Westside von Manhattan (tatsächlich existieren laut www.payphone-project.com noch drei geschlossene Münzfernsprecher in West Manhattan, allerdings keine an der Ecke von 53. und 8.), und bald solle auch sie einem Kiosk weichen.

So steht die Kurzbiografie der letzten Zelle in West Manhattan stellvertretend für all die anonym verschwindenden Telefonzellen. „Was“, fragte sorgar die Welt, „wird nur aus der guten alten Telefonzelle?“ Eine Frage, die vielleicht bald nur noch im Kino beantwortet werden kann. Die Bestürzung angesichts dieses allgemeinen Verschwindens scheint vielmehr Ausdruck nostalgischer Verklärung denn pragmatischer Verlustangst zu sein. Das Kino als Ort der Verklärung und damit guter Bewahrungsort für verblassende Alltagsmythen.

Telefonzellen sind heute wie „Nicht Auflegen“ ein Anachronismus. Drei Millionen Handys, heißt es, kommen in New York City auf acht Millionen Einwohner. Im Kino hatte die Telefonzelle ihre Blütephase lange vor der Zeit der lückenlosen Überwachung des Telefonnetzes. Damals war sie vor allem ein beliebter Operationspunkt für Kidnapper und Erpresser. Inzwischen können sogar schon Handysignale in Steuerungschips für Fernlenkraketen gespeist werden. Wer heute nicht mindestens mobil ist, kann morgen schon tot sein.

Umgekehrt hat das vor einigen Jahren in „Die Hard III“ funktioniert, als Jeremy Irons Bruce Willis auf eine Münztelefon-Schnitzeljagd durch New York schickte. Da operierte der Erpresser plötzlich stationär, während die Polizei dem Mapping des Terroristen ausgeliefert war. Wie ein Muster legte sich dessen Verbrechen über das öffentliche Telefonnetz. Oder legten die Münzfernsprecher eine Struktur über das Verbrechen? In „Lola rennt“ wiederum bildet die Telefonzelle eine repetitive Schicksalsstruktur, und jeder Versuch führt für Manni und Lola zu diesem Ausgangspunkt des Scheiterns zurück. Hin und wieder müssen sie sich dafür auch an ihr abreagieren, aber Telefonzellen sind von Natur aus unschuldig. Nur der Mensch ist schuldig – des Diebstahls, des Vandalismus, des Ehebruchs.

Aus diesem Grund steht auch Stu in der letzten Zelle West Manhattans. Er hat seine Frau betrogen und muss dafür in dieser Ein-Quadramter-Hölle schmoren. Es ist in der Tat klassisches Hitchcock-Terrain. Der Meister des Suspense hat mit „Die Vögel“ schon 1963 die Vorstellung unterwandert, die Telefonzelle sei ein Schutzraum. Bei Hitchcock, dem misogynen Schleifer, hat sich das Dominanzverhältnis Mensch-Vogel kurzerhand umgedreht. Tippi Hedren sucht in der Zelle nicht etwa Schutz vor den Vögeln, sondern wird von den Vögeln in einen gläsernen Käfig gesperrt – nachdem Rod Taylor sie in der Zoohandlung mit den Worten „Zurück in den Käfig, Melanie Daniels“ bereits symbolisch dorthin befördert hatte.

Das Skript zu „Nicht auflegen“ ist inzwischen über 20 Jahre alt. Vielleicht ist Schumachers Film wirklich der letzte große Telefonzellenfilm – the movie to end all movies. Autor Larry Cohen ist bereits einen logischen Schritt weiter. Nach dem überraschenden Erfolg von „Phone Booth“, so der Originaltitel, arbeitet er zurzeit an einem Projekt, das so schnell ganz gewiss nicht von der Realität eingeholt werden wird: „Cellular“. Ein Thriller über Handys.

„Nicht auflegen“. Regie: Joel Schumacher. Mit Colin Farrell, Forest Whitaker u. a. USA 2002, 81 Minuten

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