: „Passivität ist erschreckend“
Geplante Tat? Gegen die 22-jährige mutmaßliche Kindstöterin aus Hastedt ermittelte die Staatsanwaltschaft bereits vor drei Jahren wegen eines „identischen“ Verdachts. Jetzt wird der Fall neu aufgerollt. Kriminologe erhebt Vorwürfe gegen Eltern
Bremen taz ■ Zwei Säuglinge. Beide im Haus der Eltern heimlich geboren. Beide schon nach Stunden tot, gestorben an mangelnder Versorgung oder erstickt, von der Großmutter tot in einer Tasche entdeckt.
Bis in die Details gleicht die mutmaßliche Kindstötung am Dienstagmorgen in Hastedt dem, was sich im gleichen Haus genau drei Jahre zuvor abgespielt hatte. Die heute 22-jährige Mutter hatte Ende August 2000 schon einmal ein Kind allein in ihrem Zimmer zur Welt gebracht – lebendig, wie die Obduktion des Leichnams später ergab, gestorben kurz nach der Geburt. Ein dreiviertel Jahr ermittelte die Staatsanwaltschaft damals gegen die Mutter. Sie sei davon ausgegangen, das Kind sei bereits bei der Geburt tot gewesen, führte diese an. „Das war zum damaligen Zeitpunkt nicht zu widerlegen“, sagt Staatsanwalt Frank Passade. „Der Nachweis der Kindstötung war nicht zu führen.“ Die Beamten schlossen die Akten.
Jetzt werden sie wieder aufgemacht. Wegen Totschlags in zwei Fällen ermittelt die Staatsanwaltschaft nun, der Amtsrichter erließ Haftbefehl gegen die 22-Jährige. Die liegt derzeit unter Bewachung in einem Krankenhaus und verweigert die Aussage. Auch ihr Anwalt wollte gestern zu den Vorwürfen nichts sagen.
Die beiden toten Säuglinge der jungen Frau waren die letzten beiden Fälle mutmaßlicher Kindstötung in Bremen. „Absolut überfordert und verzweifelt“ müsse die junge Mutter gewesen sein, sollte sie ihre frisch geborenen Kinder tatsächlich bewusst umgebracht haben, mutmaßt Sozialarbeiterin Katja Pape-Raschen, die die Baby-Klappe im Bremer Sankt-Josephs-Stift betreut. Mütter können dort seit einem Jahr ihre Säuglinge anonym abgeben – bisher wurde ein Baby in die Klappe gelegt. In Fällen wie diesem, gibt Pape-Raschen indes zu, laufe selbst dieses Angebot ins Leere: „Da können sie noch so viele Baby-Klappen einrichten.“
Mit 16 war die jetzt beschuldigte Mutter zum ersten Mal schwanger geworden. Das Kind gab sie zur Adoption frei. Drei Jahre später lag ihr zweites Kindnach der Geburt tot in einer Tasche. Freiwillig hatte sich die 19-Jährige damals in jugendpsychiatrische Behandlung begeben.
Von der erneuten, dritten Schwangerschaft wollen die im gleichen Haus lebenden Eltern nach Polizeiangaben nichts mitbekommen haben. Christian Pfeiffer, Ex-Justizminister von Niedersachsen und Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. in Hannover, hält das für eher unglaubwürdig. „Die Passivität der Eltern ist erschreckend“, sagt er. Wenn der Bauch der eigenen Tochter immer dicker werde und ihr letztes Kind kurz nach der Geburt tot aufgefunden worden sei, „muss man doch alarmiert sein“, sagt er. Das Verhalten der Eltern und möglicher Freunde liege „an der Grenze zur unterlassenen Hilfeleistung.“
Sollte es zur Anklage kommen, wird entscheidend sein, wie das Gericht die beiden vorherigen Schwangerschaften bewertet. Aus dem nahezu identischen Vorfall vor drei Jahren könnte nämlich abgeleitet werden, dass die werdende Mutter den Entschluss zur Kindstötung bereits vor der Geburt gefasst habe. Die mildernden Umstände, die Richter üblicherweise in der extremen psychischen Belastung einer Mutter nach einer Geburt erkennen, könnten hinfällig werden. Zudem war der Frau die Alternative der Adoption bekannt. Sollte sie als voll schuldfähig gelten, droht ihr eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren, im Falle verminderter Schuldfähigkeit die Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Armin Simon
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen