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Radikaler Fleiß

Störrisch und fragil: Barbara Wien zeigt in einer raren Einzelausstellung Ingrid Wieners „Videobriefe“, handgeknüpfte Gobelins und Gemeinschaftsarbeiten mit Dieter Roth

Die roh geschnittenen Videobilder, die über den Monitor in der Berliner Galerie Barbara Wien flackern, könnten den Eindruck erwecken, es handele sich um Amateuraufnahmen vom Rande der besiedelten Welt: Aus dem Auto heraus hält die Kamera Ansichten von Dawson City fest, einem Ort in Alaska, der wie eine Kulissenstadt in einem Italowestern wirkt. Zwischen Wäldern und Bergketten gelegen, ziehen sich, unterbrochen von Trailerparks und Brachland, Holzhäuser aus der Zeit des Goldfiebers an leeren Straßen entlang, die sich in der Weite der Landschaft zu verlieren scheinen.

Doch da ist diese warme Stimme Ingrid Wieners: Sanftmütig kommentiert sie aus dem Off Naturphänomene, Begegnungen mit Braunbären oder einen Besuch im lokalen Postamt. Gelegentlich taucht die Erzählerin auch selbst im Bild auf. Stets jedoch führt sie uns dorthin zurück, wo in diesem Videoband alles zu beginnen und zu enden scheint – ins Innere einer Werkstatt, an einem riesigen Webstuhl, der in einer Blockhütte in der kanadischen Wildnis steht.

„Traumbilder und Gobelins“ ist der Titel einer der raren Einzelausstellungen der österreichischen Künstlerin, die seit 1986 mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Sprachtheoretiker Oswald Wiener, abwechselnd in Europa und Alaska lebt. Die von der Galerie als Edition herausgebrachten „Videobriefe“, die Wiener zwischen 1988 und 1989 mit dem Universalkünstler Dieter Roth austauschte, bilden hierbei eine Verbindung zwischen ihren jüngeren Aquarellbildern und den Zeugnissen einer 25-jährigen Zusammenarbeit.

Von 1974 bis zu seinem Tode 1998 entstand eine Reihe von großformatigen handgeknüpften Gobelins, die Wiener nach Vorlagen anfertigte, die ihr Roth aus Island und von seinen wechselnden Wohnsitzen zuschickte. Handelte es sich bei diesen Vorlagen vornehmlich um „flache“ Abbildungen wie Notizzettel, Bilder und Skizzen, steuerte Wiener im Gegenzug „tiefe“ dreidimensionale Motive bei, nach Fotos gewebte räumliche Ansichten und Ausschnitte der Umgebungen, in denen sie jeweils arbeitete. Um auch auf Reisen arbeiten zu können, besorgte sie sich einen Tischwebstuhl und fertigte kleine quadratische Einzelstücke an, die später zusammengewebt wurden.

Aus der häufig über lange Zeiträume unterbrochenen Korrespondenz entwickelte sich das, was Ingrid Wiener als „eine Art von Bilderbogen aus Lebensabfällen“ bezeichnete, „die zusammengewoben ihr eigenes Leben weiterleben“. Während die vier fertig gestellten, wandfüllenden Webteppiche noch bis September im Rahmen der spektakulären Roth-Retrospektive im Baseler Schaulager zu sehen sind, konzentriert sich die Berliner Ausstellung auf das Oeuvre Ingrid Wieners.

Neben den Roth-Motiven des letzten, nie vollendeten Teppichs sind auch ihre eigenen Entwürfe zu sehen, die alltägliche Dinge abbilden – eine Tasse, einen Schlauch oder einen Stiefelknecht. In ihrer Zurückhaltung sind diese gewebten Bilder gleichermaßen störrisch und fragil. Nebenbei räumen sie mit der Vorstellung auf, es handele sich bei den Roth-Wiener-Teppichen um die bloße Übertragung von bildender zu angewandter Kunst. Wie auch die Aquarelle, die Wiener seit Mitte der Neunziger systematisch anfertigt, um die Bildhaftigkeit von Träumen zu untersuchen, gehören sie zu einem Instrumentarium, das die fortlaufenden Änderungen der persönlichen Sinneseindrücke festhält und die Konventionen der Wahrnehmung hinterfragt.

Immer wieder fällt in Wieners „Videobriefen“ das Wort „Fleiß“. Tatsächlich erscheint das Weben der Gobelins wie das permanente Abtasten und Aufarbeiten von Bildern und Erinnerungen, die im wahrsten Sinne des Wortes im Material verknüpft werden. Die Unverzagtheit und Bescheidenheit, mit der Wiener diese Sisyphusarbeit leistet, ist an Radikalität nicht zu übertreffen.

OLIVER KOERNER V. GUSTORF

Bis 31. 8., Barbara Wien Galerie, nach Vereinbarung, Tel. 28 38 53 52, Linienstr. 158

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