Shiva in der Tanzfabrik

Modern Dance, Fitnesstraining, Aerobic, Salsa, indischer Tanz: aktive Exotik für Hiergebliebene. Noch hat das Bollywood-Fieber den indischen Tanz nicht zum Trendsport gemacht. Doch Eingeweihte schwärmen auch so für die anziehende Symbolik

von BIRGIT-SARA FABIANEK

Um zu zeigen, welche Geschichten der indische Tanz erzählt, zieht Siggi einen scheckkartengroßen Jahreskalender aus der Tasche. Ein pausbäckiger Junge ist darauf zu sehen, der mit beiden Händen einen Topf über den Kopf hält. Der kleine Junge sei der Gott Krishna, sagt sie, wie er gerade das Butterfass seiner Mutter stibitzt. Mit Gesten und Kopfdrehungen ahmt Siggi die Bewegungen des kleinen Krishna nach.

Vier Frauen bilden den Kern der indischen Tanzdrama-Gruppe in Aachen. Drei von ihnen sind heute da. Elisabeth läuft mit einem roten Klebepunkt hinter Petra her: „He, du hast dein Bindi noch nicht auf die Stirn geklebt, das hab ich dir doch extra mitgebracht!“. Ronald Sequeira, der 65-jährige Tanzlehrer, Lehrbeauftragter für indische Philosophie an der Uni Köln, lässt indisches Konfekt herumgehen.

Nach hinduistischem Glauben ist der Tanz älter als die Erde, denn Gott Shiva, der kosmische Tänzer, war von Anbeginn. Darum beginnt jede indische Tanzstunde mit dem Gruß an Shiva. Flöten, Trommeln, Sitar und Gesang geben den Rhythmus vor, in dem die nackten Füße der Tänzerinnen auf den Holzboden hämmern. Ihre Ellbogen sind auf Schulterhöhe, die Arme nach oben geöffnet, ihre Knie leicht gebeugt und nach außen gedreht, selbst die Hand- und Fußspitzen biegen sich aufwärts, entgegen der Schwerkraft.

Schwierig zu lernen, findet Siggi. „Wir sind nicht daran gewöhnt, unsere Hände und Füße geschmeidig zu bewegen und weit zu öffnen.“ In raschem Tempo wechseln die drei zwischen exakten, symmetrischen Bewegungen und skulpturalen Posen, in denen sie sekundenlang verharren. Wenn sie bei einem Schritt die Beine seitlich anziehen oder sich mit abgewinkelten Ellbogen die Hände auf die Hüfte legen, bilden ihre Arme und Beine Dreiecke. Jeder Tanzschritt folgt einer komplizierten Choreografie, jeder Augenaufschlag, selbst die Haltung einzelner Finger, ist historisch festgelegt.

In Indien tanzen die Götter, so viel ist klar. Aber längst nicht alle Gesten sind so eindeutig wie die zackige Bewegung, bei der Nacken und Kopf von Siggi, Petra und Elisabeth seitwärts rucken und ihre Handkanten immer wieder dicht am Hals vorbei mähen. „Kopf ab“, bestätigt Ronald, genannt Ronny, mit einem Nicken meine Vermutung. Der Tanz erzählt davon, wie die fischäugige Muttergöttin Minakshi den Büffeldämon vernichtet. Um wen es sich handelt, erkennen eingeweihte Zuschauer an den Mudras, symbolische Gesten, mit denen die Götter charakterisiert werden. Bei Minakshi sind es die auf Augenhöhe gespreizten Zeige- und Mittelfinger, mit der ihre fischförmigen Augen angedeutet werden.

Viele Handbewegungen werden in einer Art Vorspiel kurz erläutert und vorgeführt: die summenden Bienen, der Elefant, der sich schaukelnd in Bewegung setzt, das Wachsen der Bäume und die Ankunft des Frühlings. Der indische Tanz ist getanzte Poesie und erfordert neben der Konzentration der Tänzerin die volle Aufmerksamkeit der Zuschauer. Im Bharata Natyam gibt es 28 Stellungen für eine Hand und 24 für beide Hände. Das Repertoire für die Stellung der Füße ist ebenso groß. Die Gesten und Geschichten, die damit erzählt werden, versteht in Indien jeder, sagt Ronny. Das liegt daran, dass in Indien das ganze Leben Religion sei. Und der Tanz ein Teil davon.

Der klassische indische Tanz steht in einer weit zurückreichenden Tradition. Der größte Teil der mythologischen Geschichten, der in Liedern und Bewegungen erzählt wird, ist über 2.000 Jahre alt. An den Fürstenhöfen von Thanjuvar in Südindien ist der Tanz im 17. Jahrhundert zu einer komplexen Kunstform geworden. Eine ausgebildete Bharata-Natyam-Tänzerin benötigt etwa zehn bis zwölf Jahre intensiven Trainings, um das Repertoire zu beherrschen.

Die drei von der Aachener Tanzfabrik üben seit zwei Jahren einmal in der Woche an einem einzigen Stück, Tillana, einem etwa zehnminütigen Mosaik tänzerischer Muster. In Tillana werde keine Geschichte erzählt, sondern es gehe um die schöne Bewegung an sich, erklärt Ronny. Mit vielen isolierten Stellungen. Ronny zeigt eine meditative Pose für Shiva aus dem kosmischen Tanz. Er nimmt eine Hand über den Kopf, ruckt Nacken und Schultern nach vorne, geht dabei leicht in die Knie und hebt den linken Fuß über den rechten Oberschenkel. Verstanden? „Nee“, meint Petra, „wie machst du das mit dem rechten Arm?“ – „Ich will lieber mitmachen“, sagt Ronny, stellt sich vor den Spiegel und zeigt die Bewegung noch einmal.

Leute, die nur eine ausgefallene Tanzform suchen und neben HipHop, Samba und afrikanischen Tänzen mal eben indischen Tanz lernen wollen, sind aus seinen Kursen meist schnell wieder verschwunden, sagt er. Als er Anfang der Achtzigerjahre mit seinem Tanzangebot startete, galt Indien in Deutschland als sehr exotisch. Doch die Zeit, als Poona-Fahrten und Ashram-Besuche eine ganze Generation prägten, sind vorbei. Heute fehlt denen, die sich für seine Kurse interessieren, oft das Wissen über den kulturellen und geografischen Hintergrund der Tänze. „Ich dachte, wir machen hier orientalischen Bauchtanz“, bekommt Ronny von erstaunten Teilnehmerinnen öfter zu hören. Manche wissen nicht einmal, wo Indien liegt. Für diejenigen, die bleiben, ist gerade das Eintauchen in eine fremde Mythologie und Religion das Interessante daran. „Es ist ein bisschen wie Yoga“, findet Petra, die vor 14 Jahren angefangen hat. „Durch den indischen Tanz verändert sich nicht nur meine äußere Haltung, sondern auch meine innere.“

„Mir gefällt am indischen Tanz, dass es eine Kunst ist, mit der man nicht fertig wird“, sagt Siggi, die seit 19 Jahren dabei ist. Sie ist so begeistert davon, dass sie jede andere Form von Sport nach und nach aufgegeben hat. Modern Dance, Fitnesstraining, Aerobic, Salsa – Siggi winkt ab. „Man bewegt sich, schwitzt, und das war’s dann“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Bharata Natyam ist für sie inzwischen viel mehr als bloße Körperertüchtigung: Schauspiel, Tanz und Musik – und eine fremde und vielleicht deswegen sehr anziehende Symbolik. Ein Leben ohne indischen Tanz? „Unvorstellbar“, sagt sie.