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: HEIKO DILK beobachtet die Beobachter

Die Realität ist auf dem Vormarsch

Die Realität sieht ja folgendermaßen aus: Pärchen bekommen Babys, heiraten, Papi lässt einen Vaterschaftstest machen, die Familie bezieht eine Wohnung, die sie renoviert. Dabei gibt es allerlei undramatische Probleme.

Dann bauen Mami und Papi ein Haus, wobei der Zeitplan in Verzug gerät, was ganz schrecklich ist. Am Ende geht alles gut, und Mutti lässt die Nase machen und die Brüste vergrößern. Vati lässt die Fettschürze absaugen. Die Kinder wollen Superstars werden, und zwischenzeitlich wird mit einer anderen Familie die Mutti getauscht.

Irgendwann trifft Sohnemann im Internet jemandem, dem er den Penis abschneiden darf. Dann isst er den Mann auf – äh, hoppla! Nein! Also, nochmal: Sohnemann entführt den kleinen Jakob, bringt ihn um und kommt lebenslang ins Gefängnis. Nein! Nochmal: nein!

Was für eine Freak-Show! Und der „Kannibale“ und der „Kindermörder“ erst. Sicher, all das übt ja auch eine gewisse Faszination aus, aber vor ein paar Jahren wären wohl nur sehr wenige Menschen bereit gewesen, in diversen Doku-Soaps vor laufender Kamera das Innerste nach außen zu kehren. Sei das nun Bauchfett oder Vaterschaftsmisstrauen.

Noch etwas früher wäre wahrscheinlich mehr als nur eine Anzeige gegen den Stern eingegangen, weil er detailliert die Tat des „Kannibalen“ von Rotenburg in einer Titelgeschichte schildert. Wahrscheinlich hätte der Tagesspiegel damals den Mörder von Jakob von Metzler nicht in einem Interview jammern lassen, dass die Medien nur das Monster in ihm sehen wollen.

Ist das alles wirklich Realität? Na ja. Auch. Zitieren wir noch mal (siehe Seite 16) die Kapazität herbei: Für Niklas Luhmann ist das „unvermeidliche, aber auch gewollte und geregelte Selektivität“. Für uns einfach gestrickte Kulturpessimisten ist das ökonomischer Druck.