Urban verdichtete Perlen

Kantig, kompakt und skulptural ist die Sechzigerjahre-Architektur. Der Denkmalschutz entdeckt sie gerade neu – langsam und manchmal zu spät

Für viele gilt die Architektur der Fünfzigerjahre als letzte einheitliche Stilphase der jüngeren Baugeschichte. Flugdach und Nierentisch gehören ebenso zum Erscheinungsbild des Wiederaufbaus wie die Vorliebe für Pavillons oder die Idee der aufgelockerten Stadt. Die Formensprache des Leichten und Luftigen, die schwungvolle Geste und die naive Unschuld des Ausdrucks - Momente, die man als Reaktionen auf Krieg und Totalitarismus deuten kann – waren spätestens Mitte der Sechziger nicht mehr gefragt.

Was folgte, gab sich formal weniger einheitlich: Während die zahlreichen Büroneubauten, die damals unübersehbar das Erscheinungsbild der Stadtkerne prägten, sich mit makellosen gläsernen Vorhangfassaden in der Nachfolge Mies van der Rohes übertrumpften, dominierten etwa im Kirchenbau schalungsrauer Sichtbeton und expressionistische Formen. Der Hamburger Kunsthistoriker Ralf Lange hat jetzt im Auftrag des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz den Versuch unternommen, die Ergebnisse dieser Bauphase mit einer rund 150- seitigen Studie zu würdigen. Zahlreiche Beispiele aus Norddeutschland sind dabei. In den Überblick ist nicht nur die alte Bundesrepublik eingeschlossen, sondern auch das Bauschaffen der DDR. Das macht die Sache nicht einfacher, sind doch die Entwicklungen in beiden Staaten nur bedingt vergleichbar.

Für Lange gewinnt die Sechzigerjahre-Architektur, die für ihn auch noch das Bauen der frühen Siebziger einschließt, am deutlichsten Profil, wenn man sie von der frühen Nachkriegsmoderne absetzt. Plötzlich bekamen die Gebäude ein betont kantiges Profil. Durch den Hang zu homogenen Oberflächen - der Sichtbeton ist hierfür charakteristisch - und die Heraushebung einzelner Bauglieder entstand ein skulpturaler Zug. Vor allem aber war die Sechzigerjahre-Architektur eines: kompakt. Die lockere Baugliederung in pavillonartige Einzelkörper wurde ersetzt durch verdichtete Anlagen. Center oder Zentrum war die dazu passende zeittypische Vokabel - ob Gesundheits-, Bürger-, Alten- ,Jugend-, Schul-, Einkaufs- oder Eroscenter. Für diesen Trend war nicht nur Rationalisierung das vordringliche Motiv, sondern auch Funktionsmischung. Das Ende der Sechzigerjahre geplante Bremerhavener Columbuscenter sollte beispielsweise kommunale Einrichtungen, Wohnen und Einkaufen miteinander verbinden. Urbanität - der um 1960 von Soziologen wie Edgar Salin und Hans Paul Bahrdt wiederentdeckte Begriff - wurde zum Zauberwort der Architekten und Stadtplaner.

Im Bürohausbau zeigte sich die Verdichtung in immer komplexeren Großraumbüroanlagen, wie sie etwa von den Braunschweiger Architekten Kraemer, Pfennig, Sieverts perfektioniert wurden. Mit der Hamburger Bürostadt City Nord fand die Zentralisierung gar ihren urbanen Maßstab. Auch im Wohnungsbau dominieren kompakte, „raumbildende“ Anlagen. „Teppichsiedlungen“ verdichteter Flachbauten, „Hügelhäuser“, mit denen sich eine Hanglage auch auf dem flachen Land erzeugen ließ oder die verschachtelten Großwohnanlagen des Hamburger Architektenehepaares Spengelin (Habichthorststraße oder Großer Kurfürst in Bremen) sind dafür exemplarisch.

So gut gemeint die Ideologie der „Urbanität durch Dichte“ sein mochte, tatsächlich trug eine oft damit verbundene technokratische Mentalität wesentlich zur Zerstörung historischer Stadtstrukturen bei. Zu Recht ist die spätmoderne Architektur in den Siebzigerjahren ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Allerdings oft zu pauschal. Es gelte, fordert Lage, die „Perlen“ dieser Bauphase wieder zu entdecken.

Gerade der Denkmalschutz, der seine Popularisierung in den Siebzigerjahren der Protestbewegung gegen den „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ verdankt, scheint sich mit diesem Erbe schwer zu tun. Das zeigt sich in dem höchst widersprüchlichen Umgang mit den schützenswerten Objekten. So steht in Bremen zwar das Haus der Bürgerschaft von Wassili Luckhardt und die St.Lukas-Kirche von Carsten Schröck und Frei Otto unter Schutz, nicht aber die signifikante Stadthalle von Roland Rainer, der nun ein entstellender Umbau droht. Zwar ist eine Unterschutzstellung kein absoluter Garant für sachgerechte Erhaltung, doch sie erhöht die „Beißhemmung“ bei umbaufreudigen Politikern, Architekten und Investoren. Eberhard Syring

Ralf Lange: Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Kostenlos zu beziehen beim Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz, Graurheindorfer Straße 198, 53117 Bonn