Wanderer zwischen den Wänden

Die sieben Plagen eines Rockkonzerts – plus der schlimmsten aller möglichen Zugaben

Kein relevantes Rockkonzert kommt ohne mindestens zehn Exemplare dieser Gattung aus

Es gibt sieben Plagen, die das Rockkonzert zu einer Hölle werden lassen, und nach unmissverständlich biblischem Vorbild heißen sie: erstens der Kartenvorverkauf, dessen groteske Bearbeitungsgebühren den Konzertbesuchswunsch eigentlich schon im Stadium der zarten Überlegung ersterben lassen müssten.

Zweitens der Veranstaltungsort, denn selten wird das halbwegs relevante Rockkonzert an einem Ort ausgerichtet, der auch ohne Wünschelrute oder Flaschendrehen zu finden wäre.

Drittens die Security, die den Einlass fließend in den Tatbestand der sexuellen Nötigung schlittern lässt, abgesehen von der spannungsreichen Verzögerung, jeden der fünftausend Besucher bis in den letzten Winkel nach mikroskopisch kleinen Sprengstoffgürtelchen oder fieberzäpfchengroßen Plutoniumbrennstäbchen abzusuchen. So verpassen zwei Drittel der Besucher schon mal Plage vier: die Vorgruppe, die meist von einer Geräuschqualität umgeben ist, welche den glücklich in den Saal Einmarschierenden vorgaukelt, es sei schon alles vorbei und die Bühne würde gerade aufgeräumt.

Plage fünf fasst die binnenklimatischen Verhältnisse des Konzertsaales zusammen, denn entweder ist es viel zu heiß (im Winter), und das eigene Kondenswasser tropft einem von der Decke in den vor Staunen ständig offenen Mund zurück, oder es ist einfach nur unerträglich (Rest des Jahres) – dann beginnt das hilflose Schwimmen in der eigenen Unterbekleidung.

Noch unerträglicher sind die Preisvorstellungen der Papphüttenbetreiber (Plage sechs) für ihre unverschämten Flüssigkeitsnachbildungen, zu denen unsere Sprache eigentlich noch keine Begriffe vorsieht. Noch nicht. Nur die in Kapitalverbrechen bisher unnachgiebige bundesdeutsche Gesetzgebung bewahrt sie noch vor dem verdienten Meucheltod. Noch.

Und es gibt Plage sieben, den unvermeidlichen Merchandise-Stand, der – ständig geheimnisvoll von Unglücklichen umlungert – würdelose Kopfbedeckungen, lächerliche Obertrikotagen und sinnfrei bedrucktes Papier gegen Pauschalbeträge eintauscht, mit denen man sämtliche Diktatoren der südlichen Halbkugel bestechen könnte. Aaaaaaber …

… Aber all diese bekannten und weithin gerühmten Klassiker sind nichts gegen die eigentliche, bisher in der Konzertforschung grob vernachlässigte Hauptplage: den anderen Konzertbesucher, besonders in seiner Eigenschaft als ruheloser Wanderer zwischen den Wänden. Kein wirklich relevantes Rockkonzert kommt ohne mindestens zehn Exemplare dieser Gattung aus. Wundersam und trotz offensichtlicher zahlenmäßiger Unterlegenheit hat diese dreiste Form Mitmensch die Öffentlichkeit fest im Würge- und auch sonst im Griff.

Der andere Konzertbesucher, den ich meine, reichert unser ohnehin qualvolles Warten auf die Hauptband oder bis endlich Schluss ist, mit immer fantasievolleren Torturen an, die einwandfrei Udai Hussein oder den „Hexenhammer“ als ihren Urheber ausweisen. Nicht die schöpferische Unruhe ist es, die ihn der scheinbar ziellosen Bewegung anheimstellt, sondern der Übermut, die pure Laune, das ihm unerträgliche Nichts-anderes-zu-tun-Haben. Die Band interessiert ihn ja nicht. Wie viel Schritte sind es von rechts hinten nach vorn links? Halt, verzählt. Noch mal. Wo war gleich die Toilette? Sorry, daneben. Ist das nicht die Kassiererin vom Edeka? Habe ich dem Blödarsch da nicht vorige Woche die Schuhe voll gekotzt? Hastu mal ’ne Lulle, Kumpel? Funktioniert mein Handy hier drin? Moment, ein luftgewärmtes Pils-Imitat holen oder ein angejauchtes Leitungswasser. Prostata! Auf die alten Zeiten! Ein Schnitzel wäre jetzt auch nicht zu verachten. In der Form von Rügen oder von Colorado oder des Gewerbegebietes Hevelförde-Österdum. Oder ob man damit von hinten links nach vorn rechts drängeln kann, um möglichst viele andere mit Fett zu bekleckern. Es klappt. Geil. Mal sehen, wie sich’s genau in der Mitte steht oder direkt vor dem, der diesen Text schreiben wird, damit er wenigstens nichts mehr sehen kann, wenn er schon vor lauter Gebrüll und Handygepiepe kaum was hört.

Die Hölle, das ist der andere. Es gibt aber Konzerte, da ist einfach nur die Band die Hölle. Das muss man auch bedenken.

MICHAEL RUDOLF