Feuer! Dann brach die Verbindung ab

Noch nie hat Australien eine solche Naturkatastrophe erlebt und noch nie eine solche Spendenbereitschaft Es scheint, als habe die Natur ein bizarres modernes Kunstwerk geschaffen: überdimensionierte Kohlekreiden auf Aschenteppich

AUS YARRA GLEN UND KINGLAKE URS WÄLTERLIN

Es ist früher Abend an der Steels Creek Road im Yarra Valley, und der Polizist am Straßenrand dürfte sich in diesem Moment fühlen wie der einsamste Mensch auf der Welt. Verloren steht er zwischen einem Streifenwagen und zwei verkohlten Leichen. Eine blaue Plastikplane deckt die beiden Toten nur ungenügend zu. Zwei Arme, bizarr verkrümmt, luken darunter hervor, als ob sie den Polizisten umarmen wollten. „Ich warte auf den Leichentransport“, sagt der Beamte – wie lange er warten muss, weiß er nicht. Hektisch tippt er eine Kurznachricht ins Handy. „Hol mich hier raus“, schreibt er seiner Freundin. „Es reicht, verdammt.“

Die Nerven der Helfer im Brandgebiet nördlich der australischen Stadt Melbourne liegen blank. Ob Polizisten, Feuerwehrleute oder Heilsarmeepfarrer – der Stress nach mehreren Tagen Einsatz und härtester psychischer Belastung macht sich bemerkbar. Im Gemeindezentrum von Whittlesea, wohin sich die Überlebenden aus den Dörfern der nahe liegenden Bergkette gerettet haben, hört man immer wieder das frustrierte Fluchen oder hilflose Schluchzen eines Helfers. Zwar ist es den Brandbekämpfern dank gesunkener Temperaturen inzwischen gelungen, mehrere Feuer unter Kontrolle zu bringen oder sie zumindest einzukreisen, doch es entwickeln sich immer wieder neue Brandherde. Tausende Feuerwehrleute – die meisten sind Freiwillige – sind am Mittwoch weiter im Einsatz, sie arbeiten 12 Stunden, danach gibt es ein paar Stunden Ruhe. Die wenigsten können auf Ablösung hoffen. Stimmen die Wetterprognosen, sollen die Temperaturen zum Wochenende hin wieder steigen.

Offiziell 181 Todesopfer und über 1.000 zerstörte Häuser, davon 203 Farmen – so das Fazit der schwersten Brandkatastrophe in der Geschichte Australiens am Mittwoch. Etwa 5.000 Menschen haben ihr Hab und Gut verloren und werden in Hilfszentren wie Whittlesea mit dem Notwendigsten versorgt. Ob Schuhe, Essen, Kleider oder Kinderspielsachen – aus dem ganzen Land treffen Lastwagen mit Hilfslieferungen ein. Im Hintergrund laufen auf einem riesigen Fernsehbildschirm die Nachrichten. Die Zahl der Todesopfer werde mit Sicherheit 300 übersteigen, sagt Polizeichefin Christine Nixon.

Teile des betroffenen Gebiets sind polizeilich abgeriegelt: Tatorte, da man teilweise Brandstiftung vermutet. „Massenmord“, sagt Premierminister Kevin Rudd mit sichtbarer Betroffenheit im Fernsehen. Neben der Leichenhalle in Melbourne mussten Behelfsunterkünfte aufgebaut werden, um die vielen Toten lagern zu können. 100 werden allein am Dienstag angeliefert. Jedes einzelne Opfer wird forensisch untersucht und soll eindeutig identifiziert werden. In vielen Fällen dürfte dies wegen des hohen Verbrennungsgrades der Leichen nicht möglich sein, so Nixon.

Während sich die Medien in erster Linie auf die Gegend um Kinglake konzentrieren, wo sehr viel mehr Opfer zu beklagen sind, geraten Gebiete wie das Yarra Valley bereits aus der medialen Wahrnehmung. Die Ruhe an der Steels Creek Road ist geradezu gespenstisch. Kaum ein Fahrzeug ist auf der Straße zu sehen, auf der noch am Freitag letzter Woche Wochenendausflügler zu Wein und gutem Essen fuhren. Das Yarra Valley ist – oder war – eine der attraktivsten Weinregionen Australiens, ein beliebtes Ausflugsziel für die Menschen aus Melbourne.

Jetzt gleicht die Gegend einer Mondlandschaft. Gasthäuser sind in der Intensität der Hitze buchstäblich explodiert, ihre Wellblechdächer ausgeglüht und verkrümmt. Weinreben sind in Sekunden zu feiner Asche verkohlt. Doch im Licht der Abendsonne bietet die Landschaft einen fast absurd lieblichen Anblick. Insgesamt sollen bisher etwa 365.000 Hektar Land den Flammen zum Opfer gefallen sein. Eine Fläche, größer als das Saarland.

Die Ortschaft Kinglake wurde völlig vom Feuer ausgelöscht, 39 Bewohner haben ihr Leben verloren. Nun dürfen die ersten Bewohner in die zerstörte Ortschaft zurückkehren. „Wo soll ich anfangen?, fragt Peter Denson ratlos, vor den Ruinen seines Hauses stehend. Belle Nagle ist eine Aussteigerin, eine starke Frau sonst. Doch in diesen Tagen gibt ihr nur ihr neugeborener Sohn Rowan Kraft zum Weiterleben. „Ich fühle mich schuldig, dass ich noch lebe“, schluchzt die 34-Jährige. „So viele meiner Freunde sind tot, so viele haben alles verloren.“ Nur weil Rowan ein paar Wochen zu früh zur Welt kommen wollte, war Nagle am letzten Samstag nicht zu Hause, als über das kleine Dorf eine Stunde nördlich von Melbourne das Inferno hereinbrach. Nagle lag auf der Gebärstation im Krankenhaus der Bezirksstadt Whittlesea, und ihr Mann war sie gerade besuchen gekommen, als die Flammen Kinglake verschluckten. „Das Universum hat über uns gewacht“, sagt sie unter Tränen.

Ob das Universum oder Gott, ob das Schicksal oder Brandstifter oder ganz einfach die Natur – was oder wer auch immer die größte Katastrophe in der Geschichte Australiens zu verantworten hat, er ist völlig wahllos vorgegangen. Manche Holzhäuser sind unbeschädigt geblieben, während drei Meter weiter solide Backsteinbauten in Flammen aufgegangen und in Minutenschnelle zerbröckelt sind. Das Feuer war so intensiv, dass die Aluminiumteile in den Fahrzeugen schmolzen und sich wie Quecksilber auf die Straße ergossen. „Das Feuer kam so schnell – manche Leute hatten nicht mal mehr Zeit, zwanzig Meter weit zum gepackten Wagen zu rennen“, sagt Kinglakes Gemeinderat Peter Beales. Leute wie die Familie Davey – Rob und Natasha und ihre beiden Kinder Jorja und Alexis. Sie waren, wie die meisten Menschen, die im australischen „Busch“ leben, gut vorbereitet auf den Fall, von dem sie hofften, dass er nie eintreten würde. Das Auto war mit allem Wichtigen beladen – Fotoalben, Versicherungszertifikaten, Jorjas Barbie-Püppchen – und sogar die Hunde waren bereits im Anhänger. Ralph Koch, Robs bester Freund und Patenonkel der kleinen Jorja, hat von seinem Kumpel um 15.30 Uhr eine SMS erhalten. Er könne am Horizont Rauch sehen, habe Rob geschrieben. Minuten später rief Koch in Kinglake an. „Natasha war am Apparat“, erzählt er. „Sie schrie: Wir fahren! Feuer! – Dann brach die Verbindung ab.“ 30 Stunden später bestätigt sich seine Befürchtung: Das Haus der Daveys ist zerstört, die ganze Familie tot. Im Auffanglager in Whittlesea, wo sich die Überlebenden und Geflohenen treffen und wo noch immer verzweifelte Angehörige nach ihren Lieben suchen, hängt an der Wand unter vielen anderen eine Notiz: „Rob, Natasha, Jorja und Alexis: Wo seid ihr? Ruft Mama und Papa an.“

Mit einer Rekordopferzahl ist Kinglake der inoffizielle „Ground Zero“ dieser Brandkatastrophe. Der Weg zur Hölle ist eine Asphaltstraße, gesäumt von einem Wald, der nichts mehr anderes zu sein scheint als ein gigantischer Baumfriedhof. Fast scheint es, als habe die Natur ein bizarres modernes Kunstwerk geschaffen: eine Ansammlung überdimensionierter schwarzer Kohlekreiden auf einem weißgrauen Teppich aus Asche, aus dem punkteweise Rauch aufsteigt. Am Straßenrand die Skelette ausgebrannter Fahrzeuge. Beamte des wissenschaftlichen Dienstes der Polizei sichern Spuren. Ein Dutzend Menschen ist auf dem Weg in die erhoffte Sicherheit verbrannt. Der Dorfkern von Kinglake ist von den Flamme erstaunlich unberührt. Wenn nicht Dutzende von Feuerwehr- und Polizeifahrzeugen die Straßen blockierten, wenn nicht Notzelte der Hilfsorganisationen die Schilder der Geschäfte verdecken würden, wenn nicht dieser Gestank von Rauch und verwesenden Tierkörpern wäre, dann schiene eigentlich alles ganz normal: Kinglake, ein Kaffeestopp für Reisende auf dem Weg ins Hinterland von Melbourne, ein Wohnort für Hippies, Aussteiger und für Frührentner, die vom Stress der Stadt genug haben und die Ruhe der Natur suchen.

Erin Gray hebt eine riesige Melone in den Kofferraum ihres Wagens. Hinter ihr befindet sich der Obstladen von Kinglake, an dem ein großes Schild aushängt: „Alles gratis. Einfach bedienen“. Die junge Frau ist eine von hunderten Rückkehrern, die von der Großzügigkeit der australischen Bevölkerung leben, nachdem sie ihr Haus, in Schutt und Asche verwandelt, wiedergefunden hat.

Tonnen von Esswaren, Betten, Zelte, Kleider und sogar Futter für die Tiere werden aus dem ganzen Land ins Kastastrophengebiet geliefert. Noch nie in der Geschichte hat Australien eine solche Naturkatastrophe erlebt und noch nie eine solche Spendenbereitschaft. Die Bankkonten der Wohltätigkeitsorganisationen wachsen stündlich, vor den Blutbanken stehen potenzielle Spender Schlange. „Das gibt mir Kraft“, sagt Gray, „Kraft, die ich sonst vielleicht nicht hätte“. Ihre beiden Freundinnen sind tot.

Ein paar Meter weiter, vor dem Gemeindezentrum treffen sich die Verlorenen, die Schutzlosen. Es ist nichts zu spüren von der Wut, von der die Medien berichten, der Wut darüber, dass die Bewohner zu spät alarmiert worden seien, oder der Wut auf die Brandstifter, die laut Polizei für etwa drei der Feuer verantwortlich sein sollen. Stattdessen dumpfes Schweigen. Die Gesichter offenbaren Fassungslosigkeit, Betroffenheit, Trauer. Vertreter verschiedener Ämter informieren über einen Lautsprecher über Hilfeleistungen – von Notgeld, Mobiltelefonen bis hin zu kostenlosen Grillwürsten. Nur zwischendurch unterbricht leises Schluchzen unter den Zuhörern die Monologe, oder ein kurzer Schrei der Freude, wenn sich zwei Freunde wiedersehen. Am Rand der Gruppe steht ein Mann mit der Statur von Arnold Schwarzenegger. Er weint hemmungslos, als er seinen verloren geglaubten Kumpel umarmt.

Niemand schaut hin.