Armut ist nicht normal

Das Arbeitslosengeld II ist besser als sein Ruf – und die Voraussetzung für ein Grundeinkommen. Nur: Der Zwang zur Erwerbsarbeit muss gestrichen werden

Gegen die ideologische Fixierung auf die Erwerbsarbeit wendet sich die Idee des Grundeinkommens

Am Freitag wurden die „Hartz IV“-Gesetze verabschiedet, die ab 2005 geltende Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einem „Arbeitslosengeld II“. Und: Am gleichen Tag wurde in Berlin ein deutsches „Netzwerk Grundeinkommen“ gegründet, das vier Forderungen erhebt: Das Grundeinkommen soll existenzsichernd sein, auf einem individuellen Rechtsanspruch beruhen, ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Zwang zur Arbeit auskommen. Auf den ersten Blick scheint das „Arbeitslosengeld II“ (ALG II) nichts mit einem Grundeinkommen zu tun zu haben. Doch das stimmt nicht. Das ALG II kann zur Vorstufe des Grundeinkommens werden.

Statt dieser positiven Perspektive sehen Sozialhilfe-Initiativen oder Gewerkschafter nur einen Abbau von Leistungsrechten und eine Verschärfung von Arbeitsverpflichtungen. Viele sprechen vom „Arbeitszwang“. Nun werden Arme heute nicht mehr ins Arbeits- oder Armenhaus eingesperrt. Ist der Begriff „Arbeitszwang“ somit übertrieben? Das zu klären ist keine semantische Spielerei, denn das Grundeinkommen soll schließlich ohne Arbeitsverpflichtung auskommen.

Kurz: Von einem „Arbeitszwang“ kann man sprechen, weil mit einer Verweigerung von Leistungen gedroht wird, die laut Paragraf 1 des Bundessozialhilfegesetzes zur „Würde des Menschen“ gehören. Ohne Einkommen ist das Leben in einer Konsumgesellschaft unmöglich. Die Verweigerung von sozialstaatlichen Geldleistungen wirkt als Zwang zum Arbeitsangebot, als indirekte Arbeitsverpflichtung. In den Neuregelungen des ALG II geht es um „Zumutbarkeit“: Der Langzeitarbeitslose muss künftig „jeden legalen Job“ annehmen. Es geht ausdrücklich um „Sanktionen“: Wer eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Eingliederungsmaßnahme ablehnt, dem wird das ALG II gekürzt – für drei Monate um 100 Euro, für junge Leute unter 25 Jahren auch vollständig, zumindest für drei Monate.

Das Arbeitslosengeld II arbeitet also mit einer politischen Verpflichtung zur Arbeit. Das passt zum Kanzler, der verkündete: „Es gibt kein Recht auf Faulheit.“ Aber offensichtlich bemüht sich der größte Teil der Langzeitarbeitslosen teils verzweifelt um einen Job und leidet – vor allem mit Kindern – unter der Stigmatisierung kaum weniger als unter der Geldknappheit. Wer nicht erwerbstätig ist, tut oft Nützliches für die Gemeinschaft: Angehörige und Nachbarn pflegen, Kinder erziehen, sich ehrenamtlich engagieren. „Hartz IV“ will eine Erwerbs-, keine Tätigkeitsgesellschaft.

Ist das Arbeitslosengeld II ein Schritt zum Grundeinkommen? Die Frage scheint vielen provokativ. Die politische Diskussion ist ideologisiert. Die einen möchten Arbeitsmarktkrise und Finanzkrise des Sozialstaats zur Umverteilung nach oben nutzen. Stichworte dafür sind Mehrarbeit ohne Lohnausgleich, Kopfpauschale in der Krankenversicherung oder Senkung von Spitzensteuersätzen. „Hartz IV“ passt in die liberale Gerechtigkeits- und Effizienzbehauptung: Leistung muss sich lohnen. Sie ist nicht falsch. Leistung lohnt tatsächlich. Die Gegenbehauptung lautet: Es braucht mehr Umverteilung von oben nach unten. Die Wirklichkeit liegt dazwischen. „Hartz IV“ bietet Richtiges und Falsches.

Zunächst das Positive: Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist die Voraussetzung für ein Grundeinkommen, damit Arbeiter und Arme nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können. Für eine Übergangszeit ist das Arbeitslosengeld II höher, als es sein schlechter Ruf vermuten lässt. Eine Alleinstehende erhält künftig bei durchschnittlichen Miet- und Heizkosten 741 Euro im Monat, wenn sie früher 2.000 Euro brutto verdiente, und 811 Euro, wenn es vorher 2.800 Euro waren. Das sinkt im 2. Jahr auf 696 (bzw. 731) Euro, ab dem 3. Jahr für alle auf 651 Euro, weil die Übergangszuschläge entfallen.

Hinzu kommen Mehrbedarfe bei Schwangerschaft, Behinderung, Alleinerziehen und die Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung, die – allein der Arbeitnehmeranteil – zusätzlich etwa 18 Prozent des ALG II wert sind. Für Alleinstehende summiert es sich also faktisch auf 768 bis 956 Euro – das muss man brutto verdienen, damit sich Erwerbsarbeit überhaupt „lohnt“. Bei Familien geht es noch um höhere Beträge.

Sollen die Betroffenen also froh darüber sein? Das wäre absurd. Viele der Arbeitslosenhilfeempfängerinnen vor allem in Ostdeutschland verlieren – ohne dass es Jobs gibt. Sie protestieren zu Recht. Die Übergangszuschläge werden auslaufen. Armut soll normal werden, damit die Leute spuren. Frauen wird kein eigenständiges Einkommen garantiert. Die „da oben“ können sich die Knappheit der genannten Beträge kaum vorstellen.

Das Arbeitslosengeld II wertet „die da unten“ ab, macht sie nur im glücklichen Fall zu „Kunden“ einer Bundesagentur für Arbeit, diskriminiert im schlechten Fall die Mehrheit zum nutzlosen Rest, der sich gefälligst um die wenigen Jobs rangeln soll. Für 2 Euro pro Stunde sollen sie gemeinnützige Arbeit leisten oder durch Billiglöhne das Arbeitslosengeld II aufbessern. Was für junge Leute noch angehen mag, erleben Ältere als Entwürdigung. Gegen diese ideologische Fixierung auf die Erwerbsarbeit, der Abwertung und des Abdrängens in Armut wendet sich die Idee des Grundeinkommens.

Die Idee ist alt – und hat von jeher bedeutende Fürsprecher – angefangen von Erich Fromm über Rudolf Steiner oder Claus Offe bis zum umstrittenen Ökonomen Milton Friedman.

Ohne Einkommen ist das Leben in einer Konsumgesellschaft unmöglich

Vor diesem Hintergrund diskutieren und unterstützen die Befürworter des Grundeinkommens eine Reihe von Modellen, die auf „Hartz IV“ folgen könnten. Etwa das Bürgergeld. Sein Nachteil sind hohe Steuersätze für diejenigen, die mehr Einkommen haben als das Grundeinkommen. Das gilt auch für die Idee des „Existenzgeldes“ der Sozialhilfeinitiativen. Sie fordern ein „Take Half“, also eine 50-Prozent-Steuer auf alle Erwerbs- und Vermögenseinkommen, damit ein ordentliches Grundeinkommen finanziert werden kann.

Ein womöglich konsensfähiges Modell wäre eine „Grundeinkommensversicherung“. Sie ist angelehnt an das Modell der Schweizer Rentenversicherung AHV und vereinigt sämtliche Geldleistungen in einem System bei etwa 17,5 Prozent Beitrag auf alle Einkommen ohne (!) Beitragsgrenze. Dieses System garantiert jedem ein Grundeinkommen, das meist deutlich höher liegt als das ALG II.

Renten (ab 67), Arbeitslosengeld, Kindergeld, Erziehungsgeld, Krankengeld, Ausbildungsgeld und statt dem künftigen Arbeitslosengeld II die erwerbsunabhängige Garantie eines „Bafög für alle“: Erwerbsfähige, aber nicht zur Vermittlungs bereite Grundeinkommensbezieher würden 50 Prozent des Grundeinkommens als Darlehen erhalten, also ein teilweises Grundeinkommen. Anders als das Arbeitslosengeld II setzen alle Grundeinkommensmodelle auf Anerkennung, auf Tätigkeit, nicht nur auf Erwerbsarbeit. Sie verzichten auf Zwang. Über diese Modelle muss nun gestritten werden, nach „Hartz IV“. MICHAEL OPIELKA