Der Graf vom Werdersee

Seit zwei Jahren lebt der Georgier Viktor Wytotw von Oleknavicius im Freien – sommers wie winters. Die Polizei nötigt den Ex-Kapitän und Ex-Hotelangestellten manchmal zum Weiterziehen, doch im Schach hat ihn noch keiner besiegt. Der Achtzigjährige wartet auf Gegner

Fanni, ein gute Freundin, besucht ihn regelmäßig. Bei ihm könne sie den Alltag vergessen. Besonders schätzt sie sein Benehmen„Geld und Besitz interessiert meine Wenigkeit nicht – Freiheit siegt“ lautet das gräfliche Credo. Unter Stalin wurde die Familie enteignet

Nicht weit hinterm DLRG-Häuschen am Werdersee hat Graf Viktor Wytotw von Oleknavicius sein Domizil aufgeschlagen. Er wohnt direkt am Wasser auf einem kleinen gepflasterten Platz, der durch ein Mäuerchen begrenzt wird. Wenn er morgens auf seiner Liege aufwacht, schaut er in eine ausladende Pappel. Vor seinem Freiluft-Zimmer läuft der Weg entlang, auf dem Fahrradfahrer, Skater und Spaziergänger den See umrunden.

Für hungrige und durstige Hunde hat Viktor ein Restaurant eingerichtet. Verteilt um einen Blumenstrauß stehen mehrere Näpfe mit Köstlichkeiten für Vierbeiner bereit. Im Mittelpunkt der gräflichen Habseligkeiten: ein Tisch, auf dem ein Schachspiel aufgebaut ist. Dame, König und Läufer sind startbereit. Viktor auch.

Stolze 80 Jahre ist er alt. Eine zarte, zahnlose Erscheinung mit weißem, langem Bart und klugen blauen Augen. Sein Gebiss hat er verloren. Galant küsst sein faltiger Mund die Hände der zu begrüßenden Frauen.

Fanni, eine Freundin des Grafen, schätzt dieses zuvorkommende Benehmen: „Er hat Anstand und Klasse.“ Wenn die Beginenhof-Bewohnerin mal Abstand vom Alltag braucht, besucht sie „Opa“ – so nennt sie ihn liebevoll. Mit ihm könne man herrlich philosophieren, und für jedes Problem habe er einen guten Rat.

Viktor lebt nicht allein. Liege und schmale Rente teilt er mit seinen beiden Hunden Speedy Conzales und Lena – „meine Kinder“. Die helfen ihm auch, die Winter am Werdersee zu überstehen: „Speedy liegt an meinen Füßen und Lena kuschelt sich an meine Seite.“

Zuletzt hatte Viktor eine Wohnung in der Meyerstraße. Dort wurde ihm wegen Eigenbedarf gekündigt. Danach entschied er sich für ein Leben draußen, wo es keine räumlichen Begrenzungen, Vermieter und Hausordnungen gibt.

Vogelgezwitscher am Morgen, die Ente Erna, die ihm aus der Hand frisst, Schachspielen und Gespräche mit Freunden und Vorbeikommenden, Auslauf für die Hunde – Viktor liebt das Leben am Werdersee. Den einzigen Ärger bereitet ihm die Neustädter Polizei. Immer wieder vertreiben ihn Beamte von seinem Plätzchen mit der Begründung, es sei so unordentlich. Dann wandert er mit Sack und Pack ein paar Schritte weiter.

Dabei hat er sich extra einen Besen gebastelt. Fanni erzählt, dass die Polizei einmal sein gesamtes Hab und Gut „entsorgt“ habe, als er gerade nicht da war. „Das war ganz schön stressig für ihn, alles wieder zusammenzusammeln“. Seitdem sorgt Viktor dafür, dass in Zeiten seiner Abwesenheit jemand Wache hält.

Aber so wichtig scheint ihm das auch wieder nicht zu sein. „Geld und Besitz interessiert meine Wenigkeit nicht – Freiheit siegt!“, zitiert er gern als sein gräfliches Credo. Die Familie des in Russland geborenen Adeligen wurde unter Stalin enteignet und flüchtete von Georgien nach Litauen. Da war er 6 Jahre alt.

Seine Eltern legten offenbar viel Wert auf eine gute Bildung. Schon mit drei Jahren lernte er Schach, danach zahlreiche Fremdspachen. Wer sich heutzutage mit ihm unterhält, bekommt mitunter eine Mischung aus Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und Litauisch zu hören.

Was man versteht, ist spannend: Als Viktor 18 wurde, habe seine Mutter zu ihm gesagt: „Geh‘ in den Westen und erhalte unseren Familiennamen!“ Also sei er losgewandert und 1942 in Deutschland gelandet. Dort traf er wenige Jahre später eine schwangere Frau, die „in Verlegenheit war“, erzählt Viktor. Der hat er dann – ganz Ehrenmann – aus der Patsche geholfen und sie geheiratet.

Die große Liebe sei es nicht gewesen. In der Erziehung des Nachwuchses legte auch er verstärkten Wert auf Bildung: „Erst lernen, dann spielen!“ Das Familienwappen der Oleknavicius’ zeigt einen Seeadler. Der Graf erklärt: „Ein Seeadler wirft seine Jungen, wenn sie stark genug sind, in die Luft und dann müssen sie fliegen und für sich selbst sorgen.“

Nach 13 Jahren trennte sich Viktor von seiner Familie und ging kompromisslos seinen eigenen Weg. Viele Frauen hätten ihn begehrt, sagt der alte Mann, doch „die Richtige“ sei bisher noch nicht dabei gewesen.

Und das Berufsleben? Viel und Verschiedenes habe er gearbeitet, sagt Viktor und zeigt seine knöchernen Hände. Als Dolmetscher, Übersetzer, in der Landwirtschaft, als Lagermeister – und als Kapitän. Die Seefahrt hatte ihn 1965 nach Bremen gebracht. Zuletzt arbeitete er im Empfang des Park Hotels.

Nun aber genießt der stolze Graf seinen letzten Lebensabschnitt nach eigenem Gusto. Und das heißt: Er wartet auf Gegner zum Schachspielen. „Keiner hat mich je besiegt“, erklärt er, was seine Freunde bestätigen. Nach kalten Winternächten schaut Fanni besorgt nach ihm. Und ist jedesmal erleichtert, wenn sie ihn trifft.

Esther Brandau