Darf der Daimler das?

Der Metalltarifvertrag lässt „Abweichungen“ zu. Unklar ist, wann diese erlaubt sind

VON THILO KNOTT

So schnell sieht man sich wieder am Verhandlungstisch. In jener Nacht im Februar 2004 saßen sich die beiden DaimlerChrysler-Vertreter schon einmal gegenüber: Personalvorstand Günther Fleig auf der einen und Gesamtbetriebsratschef Erich Klemm auf der anderen Seite. Es war, in Pforzheim, das finale Gespräch über den Flächentarifvertrag für die Metall- und Elektrobranche. Und nach 13-stündigem Verhandlungsmarathon setzten Fleig und Klemm – neben Südwestmetall-Chef Otmar Zwiebelhofer und Baden-Württembergs IG-Metall-Bezirksleiter Jörg Hofmann – ihre Unterschrift unter das neue Vertragswerk.

Vom Miteinander dieser Februarnacht sind Fleig und Klemm momentan so weit entfernt wie – sagen wir mal – Stuttgart und Südafrika. Fünf Monate nach der Tarifeinigung tragen sie einen Arbeitskampf im eigenen Unternehmen aus. Bei DaimlerChrysler. Die Konzernführung hat 500 Millionen Euro Kosteneinsparung ab 2007 geplant. Sollten die Arbeitnehmer dem nicht zustimmen, so die Drohung, wird die C-Klasse dann nicht mehr in Sindelfingen, sondern in Bremen und Südafrika gebaut. Der Gesamtbetriebsrat weigert sich, hat jedoch Einsparungen von 180 Millionen Euro angeboten.

Der Arbeitskampf hat sich derweil längst über die Werkstore von DaimlerChrysler hinaus verlagert. Im Zentrum steht der Flächentarifvertrag selbst und dessen Interpretation. Martin Kannegiesser, der Chef von Gesamtmetall, sagte gestern: „Der Wunsch von DaimlerChrysler, durch Abschaffung von Privilegien, die es nirgendwo sonst gibt, die Produktion seiner Modelllinien am Standort Stuttgart wettbewerbsfähiger zu machen, ist ein typischer Anwendungsfall unseres Flächentarifvertrags.“ Dem hielt Baden-Württembergs Bezirksleiter Hofmann entgegen: „Wenn ein Unternehmen, das hochprofitabel wirtschaftet, sich durchsetzen könnte in der Absenkung tariflicher Mindeststandards, dann wäre das in der Fläche für viele kleine und mittlere Unternehmen ein schlechtes Zeichen.“ Wer hat nun Recht?

Der im Februar ausgehandelte Flächentarifvertrag hat sich zum Ziel gemacht, in Deutschland „bestehende Arbeitsplätze zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen“. Die Abweichung vom Tarifvertrag ist genau geregelt: „Ist es unter Abwägung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen erforderlich, durch abweichende Tarifregelung eine nachhaltige Verbesserung der Beschäftigungsentwicklung zu sichern, so werden die Tarifvertragsparteien nach gemeinsamer Prüfung mit den Betriebsparteien ergänzende Tarifregelungen vereinbaren oder es wird einvernehmlich befristet von tariflichen Mindeststandards abgewichen.“ Voraussetzung dafür sei allerdings, so die Einschränkung, dass „die Betriebsparteien prüfen, ob die Maßnahmen im Rahmen der geltenden Bestimmungen ausgeschöpft sind“. So weit die Theorie.

Trifft das bei DaimlerChrysler in der Praxis zu? Hagen Lesch vom Institut der deutschen Wirtschaft (DW) sieht das Vorgehen des DaimlerChrysler-Vorstands als „ligitim“ an. Das Unternehmen könne sich im Kostenwettbewerb der Automobilbauer nicht darauf verlassen, immer „auf der Insel der Glückseligen zu verweilen“. Er sehe nach der Tarifeinigung bei Siemens auch im Fall DaimlerChrysler keinen weiteren „Dammbruch“, schließlich habe die IG Metall selbst schon bei 1.100 Unternehmen (20 Prozent) Ergänzungstarifverträge abgeschlossen.

Reinhard Bispink von der Hans-Böckler-Stiftung erklärt dagegen, der Verweis auf die Wettbewerbsfähigkeit im Tarifvertrag könne nicht für die Begründung der DaimlerChrysler-Spitze herhalten: „Ein Unternehmen mit 3 Milliarden Euro Gewinn muss in der Lage sein, seine Kosten im Griff zu haben“, sagt er. Die 3 Milliarden Euro Gewinn beziehen sich allein auf die Sparte Mercedes Car Group (Mercedes, Smart, Maybach) und eben auch auf die in Sindelfingen gebaute C-Klasse. Im Geschäftsjahr 2003 war diese Sparte der wichtigste Ertragsbringer und hat also zu über der Hälfte des operativen Konzerngewinns von 5,7 Milliarden Euro beigetragen. Allein dieser Unterschied etwa zu den wenig ertragreichen Siemens-Werken in Kamp-Lintfort und Bocholt macht auch die Brisanz für die IG Metall aus. „Wenn es nicht gelingt, bei DaimlerChrysler die Tarifstandards zu halten, wo denn dann?“, fragt Bispink.

Der IG Metall wird dies gelingen. Sagt deren Tarifexperte Armin Schild. „Wenn sich die DaimlerChrysler-Manager zu Möchtegern-Trittbrettfahrern von Siemens aufschwingen und mit Arbeitnehmerängsten Politik machen, begehen sie einen Fehler“, sagt Schild. Er verweist vor allem auf die Stärke der IG Metall im Unternehmen: 90 Prozent der Belegschaft sind Gewerkschaftsmitglieder – bei Siemens sind es nur 35 Prozent. Er sagte gleichwohl: „Wenn es überhaupt Zugeständnisse geben sollte, dann geht es um betriebliche Vereinbarungen und nicht um den Flächentarif von Pforzheim.“