: Werkbank statt Schulbank
Resozialisierungsprojekte, die eine Bochumer Stiftung mit Jugendlichen in Chile durchführt, stoßen im Gastgeberland zunehmend auf Kritik. So würden die sprachunkundigen Jugendlichen zur Arbeit gezwungen und nur unzureichend betreut
aus Buenos Aires INGO MALCHER, aus Berlin KATHARINA KORELL
Raus aus ihrem alltäglichen Umfeld und im Ausland bis zu einem Jahr lang neue Eindrücke sammeln: So sollen Jugendliche mit familiären Problemen, aber auch junge Straftäter im Alter von 14 bis 17 Jahren wieder auf die rechte Bahn gelenkt werden. Das jedenfalls ist das Konzept der Bochumer Stiftung Life Jugendhilfe. „Die Jugendlichen kommen meist direkt von der Straße. In ihren Familien haben sie bisher keine Anerkennung oder Zuspruch erhalten. Das soll in den Gastfamilien anders werden und wird täglich überprüft“, sagt Life-Projetleiter Gerd Lichtenberger.
Doch jetzt ist die Stiftung in Chile unter Druck geraten. Die staatliche Jugendbehörde des Landes (Sename) ermittelt gegen Mitarbeiter von Life vor Ort. „Wir haben den Verdacht“, so Sename-Direktorin Delia del Gatto, „dass den Kindern fundamentale Rechte vorenthalten werden“. Anders als von Lichtenberger behauptet, sei Life vor zwei Jahren nicht von der Jugendbehörde geprüft und „für gut befunden“ worden. In Wahrheit habe es bereits vor anderthalb Jahren ein Treffen mit Life-Vertretern gegeben, bei dem ihnen gesagt worden sei, „dass wir ihre Methode total ablehnen“.
Die Liste der von Sename vermuteten Seltsamkeiten ist lang. So habe keine chilenische Behörde offiziell Kenntnis von den Life-Projekten in Chile. Die Jugendlichen würden nur mit einem Touristenvisum nach Chile einreisen. Erst später würde ihr Aufenthaltsstatus geändert.
Die Tutoren der Jugendlichen meldeten sie an einer Schule an, um so für sie ein Visum zum Verbleib in Chile zu erhalten. „Oft gehen die Kinder dann aber nicht zur Schule“, sagt Del Gatto. In Chile ein Delikt: Es herrscht Schulpflicht. Anstatt zur Schule gehe es manchmal zur Arbeit. So beschwerte sich der ehemalige Life-Zögling C. gegenüber der chilenischen Tageszeitung El Mercurio, dass er in der Metallwerkstatt seines Gastvaters arbeiten musste und gar nicht nicht zur Schule geschickt wurde.
Sename bemängelt auch die Auswahl der Gastfamilien. Die meisten Kinder seien bei Familien auf dem Land untergebracht, die oft über wenig Einkommen verfügen und einen niedrigen Lebensstandard hätten. Auch wirft Sename den Life-Pädagogen vor, die Betreuung nicht besonders ernst genommen zu haben. So habe lediglich alle zwei bis drei Monate ein Psychater die Jugendlichen bei ihren Gastfamilien besucht. „Das ist keine adäquate Kontrolle des Prozesses“, sagt Del Gatto. Zweifelhaft an der Life-Methode sei überdies, dass die Jugendlichen nach Chile geschickt würden, ohne ein Wort Spanisch zu verstehen.
Life-Chef Gerd Lichtenberger hingegen ficht das Sündenregister nicht an. Die von Sename erhobenen Vorwürfe seien unsinnig. „Keiner der Jugendlichen muss arbeiten und alle gehen zur Schule“, sagt er auf Anfrage der taz. Außerdem kümmere sich Life um den Spracherwerb. Angekommen, würden die Jugendlichen die Landessprache in „Rekordzeit“ erlernen. Dazu würden sie, die häufig „schwerwiegende Lernschwächen“ hätten, nachmittags im Einzelunterricht und mit Hilfe einer „Webschule“ unterrichtet. Zudem habe jeder Jugendliche während seines ganzen Aufenthaltes ein bis zwei Tutoren als Betreuer. Diese kümmerten sich rund um die Uhr um den Betreffenden. „Es gehört ja gerade zu unserem Programm, dass jeder Teilnehmer zum ersten Mal in seinem Leben die Erfahrung macht: Das ist ein Mensch, der nur für mich da ist“, sagt Lichtenberger.
Die Erkenntnisse der chilenischen Jugendbehörde Sename stützen sich lediglich auf Aussagen von ehemaligen Life-Tutoren oder -Mitarbeitern. Eine Überprüfung der Vorwürfe ist schwer für die chilenischen Jugendschützer. Sechs Jugendliche von Life seien derzeit in Chile. Doch die Jugendbehörde kennt noch nicht einmal die Namen, geschweige denn ihre Adresse.
Jetzt forderte Del Gatto in einem Schreiben an Life, ihr mitzuteilen wer die Kinder sind und wo sie leben, damit ihre Behörde die Bedingungen, unter denen sie leben, überprüfen kann. „Wenn es den Kindern gut geht, gibt es keine Probleme“, sagt Del Gatto. „Aber es gibt Gründe, die uns vermuten lassen, dass ihr Recht auf Bildung, ihre Bewegungsfreiheit und ihr Recht, nicht zur Arbeit gezwungen zu werden, verletzt werden.“
Der Chile-Aufenthalt von C. hatte für den heute 19-Jährigen übrigens fatale Folgen. Nachdem er beim Klauen einer Lederjacke erwischt wurde, verurteilte ihn ein Gericht in Chile zu drei Jahren und einem Tag Gefängnis, wie El Mercurio berichtete. Er hat erst die Hälfte seiner Strafe abgesessen.
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