Schlechte Lüfte über der Delme

Gruselpotenzial in extravaganter Ausstellungsarchitektur, dazu die Erotik des Untergangs: In Delmenhorst inszeniert die Ausstellung „Pest, Plagen und Polycarpus“ ein europäisches Trauma, das das Mittelalter dunkel machte und im 20. Jahrhundert bei Künstlern wie Horst Janssen fortlebt

Sie leerten Riesenhumpen in einem Zug. Sie karrten die verunstalteten Pest-Toten zusammen. Sie flehten im Büßergewand für die Seelen der Brüder, um kurz darauf zotige Fastnachtsreden zu schwingen – die Bruderschaften des späten Mittelalters fanden Wege, sich mit den Umständen zu arrangieren. Zum 550. Geburtstag haben die Museen der Stadt Delmenhorst der örtlichen Polycarpus-Gilde eine ambitionierte Ausstellung gewidmet. „Pest, Plagen und Polycarpus“ beschwört das Klima herauf, in dem das Gildewesen blühte: die nackte Angst ging um. Der schwarze Tod raffte ganze Dörfer dahin, dezimierte Städte um die Hälfte ihrer Bewohner. Seine Opfer starben plötzlich, voll Panik vor dem Höllenfeuer, wurden ohne Priester und Kreuz verscharrt. Hier sprangen die Bruderschaften ein. Sie standen den Sterbenden bei, übernahmen den Dienst der Totengräber.

Dem Doktor Luther allerdings waren sie ein Dorn im Auge. Nicht nur, weil sie mit gewisser Berechnung fürs eigene Seelenheil ackerten. „Die haben eyn zeyt, eyn gelt und als nu geht eyn bier, ein fressen und ein sauffen“, schimpfte der Reformator, der vielerorts dem Treiben der Bruderschaften ein Ende setzte. So deutlich wird Museumsdirektor Gerhard Kaldewei nicht. „Die Gilde heute ist ein Gesellschaftsclub, der sich auf Brauchtumspflege zurückzieht“, bedauert er. Dabei gebe es in der Sterbebegleitung auch heute dringende Aufgaben anzupacken.

Mit den Letzten Dingen hat der Hammerschwingende Gildemeister Gerhard Siemers tatsächlich wenig im Sinn. Einen echten Polycarpus-Sargträger wolle heute auch niemand mehr, sagt er. Dass es die Gilde an sozialem Engagement mangeln lasse, will Siemers aber nicht auf sich sitzen lassen: Kinder aus Tschernobyl werden nach Delmenhorst eingeladen, Altersheim-Bewohner erfreue die Gilde mit selbstgebackenen Torten und plattdeutschen Döntjes.

Wer sich direkt in die Ausstellung stürzen will, den stoppt am Eingang erstmal eine schwarze Wand: Der Besucher muss zunächst durch einen schmalen Gang, um den hölzernen Kubus herum, auf der Rückseite hinein, sich ducken unter dem eisernen Korb. Die Enge einer mittelalterlichen Stadt soll spürbar werden, in der sich die Pest wie ein Lauffeuer verbreiten konnte. Es riecht harzig. „Schlechte Lüfte“ riefen das Sterben hervor, glaubte man einst und verbrannte edles Holz und Räucherwerk in „Pestkörben“. Erst 1894 wurde die wahre Ursache des Unheils erkannt: Infizierte Rattenflöhe machten sich, von sterbenden Ratten aus den Löchern geschleppt, über die Menschen her. Die mumifizierte Ratte ist ein Star der Ausstellung. Ihr papierartiger Körper hat unter den Dielen eines Fachwerkhauses die Jahrhunderte überstanden.

Weniger durch ihre Bedeutsamkeit als durch ihr Gruselpotenzial zeichnen sich die Exponate aus. Aus Oldenburg sind die Überreste eines Karrens gekommen, auf dem man um 1600 in der Wesermarsch Pestleichen abtransportierte. Fraglich ist, ob man diesen Karren unbedingt mit Pressholzplatten zusammenflicken und mit Dummies in Bettlaken und rotäugigen Gummiratten beladen muss. Dafür gibt es eine extravagante Ausstellungsarchitektur von Studierenden der Fachhochschule Oldenburg: Fünf Kuben gliedern den Raum, labyrinthisch begehbar, hermetisch vernagelt oder zum Raum hin geöffnet – das große Sterben schaffte Platz.

Die Ausstellungsmacher haben sich nicht auf eine historische Epoche beschränkt. Das leuchtet ein: Als sich der schwarze Tod im 18. Jahrhundert aus Europa verabschiedete, folgten ihm Cholera, Ruhr und Tuberkulose. Was in den Totentänzen des späten Mittelalters schon angelegt war, feierte im 19. und 20. Jahrhundert üppige Auferstehung: die Erotik des Untergangs. Der Delmenhorster Zweite-Reihe-Symbolist Arthur Fitger lässt den Engel der Vernichtung über leichtbekleidete Leiber steigen. Etwa ein Jahrhundert später tanzt bei Horst Janssen der Tod mit schönen Frauen. Knochenfinger quetschen Brüste und pressen das Leben aus dem Leib. Sogar auf dem Anti-Tbc-Aufklärungsplakat dringt der Erreger in Teufelsgestalt durch sexy geöffnete Lippen. Die Kranke hustet nunmehr Bazillen – ein Verhängnis mit Schlafzimmerblick.

Annedore Beelte

Bis 5.9. in den Delmenhorster Museen auf der Nordwolle, Am Turbinenhaus 10-12. Katalog 12 Euro, Gummiratte 3 Euro. Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr und So 10-17 Uhr, Do bis 20 Uhr