Insel der Glückseligen

Auf Mauritius lebt ein buntes Völkchen, dessen Vorfahren aus aller Welt stammt. Die meisten Bewohner sprechen mindestens drei Sprachen fließend. Ethnische Konflikte gibt es hier kaum

VON DOROTHEE WENNER

Das Picknick am Strand ist für viele Mauritier ein ebenso heiliges Sonntagsritual wie der Waldspaziergang für deutsche Familien. Der Vergleich hinkt ein wenig, denn unnötige Bewegung widerspricht dem mauritischen Entspannungsideal: Man bevorzugt die bequeme Anreise und parkt den Wagen bzw. das Motorrad so, dass die Kühltaschen nicht unnötig weit geschleppt werden müssen.

Kein Mauritier hat es wirklich weit zu postertauglichen Buchten, doch im touristisch noch kaum erschlossenen Süden gibt es der starken Strömung wegen nur wenig sichere Strandabschnitte. Deswegen ist es dort vor allem zum Sonnenuntergang etwas voller als anderswo. Dafür kommt man dort als Tourist aber auch schneller ins Gespräch mit anderen Badenden. Zum Beispiel mit Ravi, dem Oberhaupt einer indischen Großfamilie, der mit den Seinen schon seit einer halben Stunde relativ regungslos im Wasser liegt und wartet: auf eine entzückende Schar junger Chinesinnen, die alsbald, wie versprochen, unter bunten Sonnenschirmen über den Rasen anspaziert kommt. Schüchtern betreten die Mädchen die Wellen, benetzen sich mit dem lauwarmen, türkisfarbenen Wasser und lassen vermeintlich schamhafte Blicke schweifen.

Das ist offenkundig das Signal für die beiden kreolischen Beachboys, ihre Stellung im Schatten des Kasuarinenhains zu verlassen. Mit delphinartigen Splashs, „Bomben“ und aufreizenden Schreien, wie sie nur am Strand Aufgewachsene beherrschen, unterhalten die beiden die wohl dreißig Chinesinnen auf charmanteste Weise. Und Ravis Familie bekommt genau die Performance, auf die sie gewartet hatte. Immer wieder bedanken sich die Inder dafür mit jauchzendem Szenenapplaus. Unter dem Licht des immer bunter werdenden Sonnenuntergangs mutet die Szenerie wahrhaft paradiesisch an.

Die Mauritier sind sehr stolz auf ihre multiethnische Heimat. Auf der Insel mitten im Indischen Ozean haben sich sukzessive Madegassen, Inder, Mosambikaner, Portugiesen, Franzosen, Araber, Chinesen und viele andere Ethnien niedergelassen. Weil es nie eine „Urbevölkerung“ gab, beginnt die Geschichtsschreibung von Mauritius ohne jene traumatischen Massaker, die andere Einwandererstaaten wie ein böser Fluch verfolgen. In dieser historischen Besonderheit sehen viele Mauritier das Geheimnis des bemerkenswert friedlichen Miteinanders unterschiedlichster Kulturen und Religionen auf engstem Raum verborgen. So kann es einem passieren, dass sich jemand mit folgender Begründung als „typische“ Mauritierin vorstellt: „Meine Familie ist eine madegassisch-indisch-griechisch-chinesische Mischung, ich selbst bin mit einem Schweizer verheiratet.“

Jeannine Wick betreibt in der Nähe des Städtchens Surinam ein Hotel. Es ist relativ spät in der Nacht, und Madame Wick sitzt in einem blau changierenden Sari im überfüllten Hindu-Tempel. Neben ihr die hübsche Tochter, die sich wiederum in einen Traum aus Rosa gehüllt hat, um im modischen Wetteifern mit den anderen Damen mithalten zu können. Mutter und Tochter sind gläubige Katholikinnen, singen aber ganz selbstverständlich in der von Räucherstäbchen angedickten Luft die Lobpreisungen an Gott Schiwa meditativ mit. Das entspannte Kommen und Gehen im hinduistischen Tempel, so Jeannine Wick, gefiele ihr einfach besser als die strenge Zeiteinteilung katholischer Messen, wo man schief angeguckt wird, wenn man mal zu spät kommt. Auch ihre undogmatische Religionspraxis macht Jeannine Wick zu einer typischen Mauritierin. Es gehört auf der Insel zum Alltag, dass Tamilen für ihre Kinder zum Osterfest Eier färben, Muslime sich zu Weihnachten Plastiktannenbäume ins Wohnzimmer stellen und Christen muslimisches Briani zum Leibgericht zählen.

Möglich wird diese alltägliche und selbstverständlich praktizierte Toleranz nicht zuletzt durch die beeindruckende Vielsprachigkeit der Mauritier, die zwischen Englisch und Französisch mühelos hin- und herwechseln, kreolisch sprechen sie ohnehin – dazu oft auch noch eine indische Sprache oder deutsch oder arabisch.

Über die Hälfte der Inselbewohner sind indischer Abstammung. Schon Ende des 19. Jahrhunderts waren auf Mauritius über 500.000 Inder beschäftigt, mehr als anderswo im gesamten britischen Empire. Die vormalige „Ile de France“ war 1842, nur wenige Jahre nachdem sich die Briten die koloniale Vorherrschaft gesichert hatten, zur Stätte eines großen Experiments auserkoren worden. Man wollte auf Mauritius erforschen, ob man mit Billiglohnarbeitern ebenso profitabel Zucker produzieren konnte wie mit Sklaven.

Vor allem aus Bihar wurden Inder auf die ferne Insel verschickt, da die Bauern von dort als „Zuckerrohr-erfahren“ galten. Doch war es weniger die Professionalität der Arbeiter als ihre sklavenähnliche Ausbeutung auf den Plantagen, die dem frühkapitalistischen Experiment wirtschaftlichen Erfolg bescherte. Mauritius wurde zur führenden Zuckerkolonie.

Immer mehr Vertragsarbeiter aus Mosambik, Madagaskar und China wurden rekrutiert, häufig übernahmen britische Marinesoldaten die Aufgabe, Afrikaner von Sklavenschiffen zu „befreien“, um sie dann in langjährige Knebelverträge mit den Plantagenbesitzern zu zwingen.

Die vornehmlich aus dieser Zeit stammende ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung prägt seit der Unabhängigkeit 1968 die politischen Machtverhältnisse: An der Spitze der durchweg kapitalistisch orientierten Parteien findet man vornehmlich Inder, während in der wichtigen Textilindustrie sowie in der relativ jungen Tourismusbranche die Franko-Mauritier das Sagen haben.

Vor diesem Szenario wäre es Schönmalerei, beispielsweise die Sorge der kreolischen Bevölkerung vor einer hinduistischen Vormachtstellung zu verschweigen oder so zu tun, als gäbe es nicht einige snobistische Nachfahren von Plantagenbesitzern, die sämtliche Kreolen für Tagediebe halten. Vor allem in den 80er-Jahren, als relative Armut, bedingt durch Arbeitslosigkeit und „Überbevölkerung“, das politische Klima radikalisierte, verzeichnete die linksgerichteten „Mouvement Militant Mauricien“ mit dem Slogan „Eine Nation, ein Volk“ und dem Streben nach einem neuen Nationalitätsgefühl große Erfolge. Inzwischen lässt sich der Lebensstandard der Mauritier aber nicht mehr mit „Dritter Welt“ beschreiben. Es gibt ein funktionierendes Schulwesen, ein nahezu kostenloses Gesundheitssystem und eine in Bau befindliche „Cyber-City“ nahe der Hauptstadt Port Louis. Sie lässt die junge Generation auf Arbeitsplätze jenseits der Zuckerrohrfelder und Textilfabriken hoffen. Der relative Wohlstand trägt wesentlich dazu bei, dass man heute auf Mauritius kaum fündig wird, wenn man nach ethnischen Konflikten sucht. Zumeist stößt man auf das Gegenteil, vor allem während religiöser Feiertage.

Alljährlich findet im Frühling das Maha Schiwaratri, die „große Schiwa-Nacht“, statt. Zum Auftakt der dreitägigen Festivität pilgern etwa 600.000 Inder – mithin die halbe Bevölkerung – zu Fuß oder auch mit Auto zum Ganga Talao, dem Heiligen See, im Süden der Insel. Wo immer man geht, steht oder fest steckt, umgibt einen ein wunderbares Wandertagsgewusel. Wie üblich an indischen Feiertagen ist es relativ unklar, wo wann was genau passiert – und man daher tut gut daran, keinen genauen Plan zu verfolgen. Am besten lässt man sich mit dem Strom treiben, von einer Zufallsbekanntschaft zur nächsten kleinen Zeremonie.

Den Weg entlang sind allenthalben improvisierte Feldküchen aufgebaut, die die Pilger zu kostenlosen Getränken, Snacks oder auch auf gemütlichen Kissenlandschaften zum Nickerchen einladen. Die Gastgeber, meistens Familien, heißen alle Wanderer mit ebenso großer Heiterkeit wie Neugierde willkommen, man plaudert ein wenig und wird besonders herzlich begrüßt, wenn man als Nicht-Hindu an der gigantischen Prozession zum See teilnimmt. Dort staut es sich dann gewaltig, denn jede einzelne Pilgergruppe braucht ausreichend Zeit und Platz für die Gebete und Zeremonien auf der gepflasterten Uferpromenade. In einem sanft dahinfließenden Rhythmus werfen die Gläubigen mit Blüten, brechen Kokosnüsse auf, kneten Brotteig und gießen immer wieder Wasser, aber auch Honig und Joghurt hierhin und dahin. Zwar werden mit ähnlichen Prozeduren am Ufer des Ganga Talao das ganze Jahr über neue Autos eingesegnet und die Götter um Unterstützung bei Examen und anderen schwierigen Unternehmungen angefleht. Zum Maha Schiwaratri aber geht es darum, an diesem besonderen Tag ein kleines Kännchen Seewasser zu schöpfen, das in der darauf folgenden Nacht im heimischen Tempel Lord Schiwa als Opfergabe dargeboten wird.

Historisch betrachtet ist der heilige Ganga-Talao-See eine dieser praktisch flexiblen „Erfindungen“, die typisch für den hinduistischen Glauben sind. Ende des 19. Jahrhunderts war einem auf Mauritius lebenden Brahmanen der See „im Traum erschienen“; dieser See wurde nachfolgend dann auch in der Realität „entdeckt“. Seither und erst recht, seit man 1972 dem See auch ein wenig echtes Ganges-Flusswasser hinzufügt hat, haben die Hindus der Insel eine voll funktionsfähige Pilgerstätte und müssen im Unterschied zu den Muslimen nicht umständlich um die halbe Welt fliegen, um ihre Gebete zu verrichten.

„Die Menschen hier singen vor allem während der Feiertage Lieder, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört habe. Und vor allem wissen sie, im Unterschied zu den meisten Indern, bei jedem noch so kleinen Ritual, woher es kommt, was es genau bedeutet“, erzählt Malti Sahai, seit einem Jahr Leiterin des indischen Indira-Gandhi-Zentrums in Phoenix, einer geschäftigen Kleinstadt im Inselinnern. Die Managerin aus Delhi ist davon fasziniert, wie ihre Landsleute seit Generationen im Exil ihre kulturelle Identität bewahrt haben – und gleichzeitig stolz darauf sind, einer echten Regenbogennation anzugehören. „Mir fällt auf, dass hier alle zunächst betonen, sie seien Tamilen, Marathi, Franzosen oder sonst was. Erst im Ausland werden sie dann zu Mauritierin.“ Aber vor allem, so Malti Sahai, präge die sprichwörtliche Harmoniesucht der Mauritier ihren Arbeitsalltag als Kulturmanagerin. „Das ist hier wirklich anders als in Indien: Man streitet sich hier einfach nicht gerne, sondern fährt lieber an den Strand und macht erst mal ein Picknick.“

Im Grunde genommen verhält es sich mit der menschlichen Besiedlung auf Mauritius ähnlich wie mit der Flora und Fauna der Insel. Als Erstes brachten die Holländer ein paar Hirsche auf die Insel, um etwas „Lebendproviant“ auf dem langen Seeweg von und nach Südostasien zu parken. Mit diesem Java-Wild kamen die ersten Säugetiere auf die Insel, die als Pioniere eine völlige neue Tierwelt als die Urfauna etablierten.

Ähnliches passierte in der Pflanzenwelt. Zwar sind die Edelhölzer nach der kompletten Rodung nie wieder nachgewachsen, aber dafür machten die jeweiligen Kolonialisten, Siedler, Landwirte und später auch Ökologen Bäume, Gewürzpflanzen und Blumen von allen Erdteilen auf Mauritius heimisch.

Das Schicksal der Insel scheint somit für viele Lebewesen mitten im weiten Ozean eine Station auf dem Weg von A nach B zu sein. Manche müssen bleiben, andere wollen bleiben. Fürs menschliche Zusammensein jedenfalls ist diese Form der Besiedlung sicher nicht die schlechteste.

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