BUCHTIPP

„SHANGHAI“

Oriental Pearl, der Fernsehturm Schanghais mit der markanten Kugel, er kommt auf den Fotos von Lies Maculan nur einmal vor. Und auch da ist er nur verschwommen zu sehen, weil wieder einmal Smog den Himmel Schanghais verschleiert. Die 1977 in Wien geborene Fotografin zeigt in ihrem Bildband dafür, was Schanghai wirklich ausmacht: die Bewohner der Stadt. Maculans großenteils schwarzweiße Fotografien zeigen kein geschöntes Bild der Stadt, doch es ist offensichtlich der Blick einer Fotografin, die von der Stadt fasziniert ist. Auf vielen Bilder spürt man förmlich die Hitze der südchinesischen Metropole, die im Sommer die Menschen aus ihren beengten Wohnungen heraustreibt. Das Leben findet, wenn keine vollklimatisierten Räume zur Verfügung stehen, auf der Straße statt. Hauptsächlich streift sie durch die ehemalige französische Konzession mit pappelbestandenen Alleen und alten Villen, durch die aus den 1920er- und 1930er-Jahren stammenden Schikumen-Viertel mit ihren Reihenhäusern. Da werden auf dem Gehsteig Zähne geputzt, wird Wäsche gewaschen, vieles erinnert überraschenderweise an Havanna, das Leben auf der Straße, angefangen vom Sich-gegenseitig-die-Nägel-Lackieren, übers Wäschewaschen, Essen und Kartenspielen. Ohne Nostalgie, ohne Pathos, dafür mit viel Humor dokumentiert Lies Maculan eine Welt im Umbruch. Sie beobachtet mit Freundlichkeit, sieht in den Massen von Menschen stets das Individuum in der Masse. Das macht ihren Bildband so anrührend. BARBARA SCHAEFER

Lies Maculan und Chen Danyan: „Shanghai“, Christian Brandstätter Verlag. 36 €