Vor der Silhouette des Sandino

Manuel Monje, respektvoll „El Comandante“ genannt, starb in einer Kneipe bei einer Messerstecherei

AUS MASAYA UND WASLALA RALF LEONHARD

Der See und der glatte Kegel des Vulkans im Hintergrund sind in sanftes Orange gehüllt. Abendstimmung über Managua. Die Carretera Masaya, die Ausfahrtsstraße nach Süden, ist diesmal nicht von Jeeps verstopft, die die schmucken Villen außerhalb der Stadt ansteuern. Stattdessen windet sich eine Menschenkolonne die sanfte Anhöhe hinauf – auf Fahrrädern, offenen Pritschenwagen, zu Pferd und vor allem zu Fuß. Viele schwingen rot-schwarze Fahnen, skandieren Slogans, HipHop und Reggae-Beats scheppern aus den Lautsprechern. Ganze Familien sind unterwegs. Alle sind ausgelassen.

Es wird die 25. Auflage des „Repliegue“ gefeiert, der taktische Rückzug der sandinistischen Guerilleros, die dem Druck der Nationalgarde in Managua wichen, um sich in der 27 Kilometer entfernten Handwerkerstadt Masaya zur Schlussoffensive gegen die Somoza-Diktatur zu rüsten. Jedes Jahr kommen Tausende zu diesem Auftakt für die Feierlichkeiten des Revolutionsjubiläums.

Ein ehemaliger Guerillero, der sich heute in Managua als kleiner Fuhrunternehmer durchschlägt, erzählt, dass er 1979 gar nicht bis Masaya kam. Er musste vor den Bomben der Nationalgarde Schutz suchen und unterwegs untertauchen. Aber nicht nur „historische Kämpfer“ sind dabei. Benjamín ist 24 und sagt, er sei „100-prozentig sandinistisch“. Seit er zehn ist, kommt er zum Repliegue, der genauso Fitnessmarsch ist wie Demonstration gegen die liberal-konservativen Regierungen. Wie er hofft auch Sara, dass die Sandinisten an die Macht zurückkehren, damit sie endlich wieder Arbeit als Sekretärin findet: „Weil ich weiß, dass sie uns allen etwas geben werden“, sagt die 29-Jährige.

Auch Daniel Ortega ist unter den Marschierern. Der inzwischen 58-jährige Parteichef hält traditionell die Ansprache vor dem Abmarsch in Managua und nach der Ankunft in Masaya. Während des Marsches weicht er immer wieder von der Strecke ab, besucht Honoratioren in den kleinen Dörfern entlang der Strecke und schüttelt die Hände ehemaliger Guerilleros. Außer beim Repliegue mischt er sich selten so direkt unters Volk.

Für einen Abend weht – zumindest zwischen Managua und Masaya – der alte Geist des Sandinismus, der Hoffnungen nährte und Träume gebar, durch die milde Luft. 14 Jahre ist die sandinistische Befreiungsfront zwar schon nicht mehr an der Macht, sie hat keine Zeitung mehr und keinen Fernsehkanal, aber sie regiert immerhin noch ein Drittel der 151 Gemeinden, darunter Managua und die meisten Provinzhauptstädte, und kann durch wechselnde Allianzen im Parlament vieles erreichen und noch mehr verhindern. Doch die Realpolitik des Daniel Ortega ist nicht unumstritten.

Auch Doña Ena Peralta, eine kleine, pummelige Frau an die 70, betrachtet sich als Sandinistin. Ihr gehört ein kleines Papiergeschäft in Monimbó, dem ersten Stadtteil Masayas, der sich gegen die Diktatur erhob. Über den Ladentisch hinweg hat sie die historischen Entwicklungen aus nächster Nähe mitverfolgt, etwa wie auf dem Platz gegenüber der Kirche zum heiligen Sebastian die Barrikaden gegen die anrückenden Nationalgardisten errichtet wurden. „Die gesamte Nachbarschaft unterstützte die Guerilleros“, erzählt sie. In Monimbó konnten die Sandinisten sicher sein, nicht an die Nationalgarde verraten zu werden. Die jugendlichen Aufständischen fanden bei Doña Ena auch Unterschlupf. Sie deutet auf eine Ecke auf der anderen Straßenseite: „Dort töteten sie einen hohen Offizier, der wild herumschoss.“

Doch das ist Geschichte. Das „heroische Monimbó“, wie es in der sandinistischen Geschichtsschreibung genannt wird, stimmte schon 1990 mehrheitlich gegen die Sandinisten und wird heute vom Liberalen Carlos Iván Hüeck regiert, dem Sohn eines einst verhassten Obristen der Nationalgarde. Mit seinen selbstherrlichen Entscheidungen hat er sich inzwischen fast genauso ungeliebt gemacht wie sein Vater Cornelio.

In den letzten Jahren hat sich der Bezirk kaum verändert. Die Straßen sind vielleicht etwas schäbiger geworden. Einige der geschickten Kunsthandwerker machen am neuen Touristenmarkt gute Geschäfte, doch die meisten schlagen sich mit Gelegenheitsarbeiten durch oder verkaufen irgendetwas auf der Straße. Überlebenskampf prägt den Alltag. „Alles wird teurer. Es gibt zu wenig Arbeit“, klagt Doña Ena. Auch die Helden des Aufstands kämpfen mit Armut und Perspektivlosigkeit. Besonders tragisch findet sie das Schicksal von Manuel Monje, der seit dem Sturm auf den Nationalpalast im August 1978 in Monimbó respektvoll „El Comandante“ genannt wurde. Er starb Mitte April in einer Kneipe bei einer Messerstecherei mit einem 17-Jährigen: betrunken und im Streit, wer der bessere Mann sei.

Für Fernando, den Enkel von Doña Ena, sind das Geschichten, die er nicht einordnen kann: „In der Schule erfahren wir nichts über die jüngere Vergangenheit. Da endet die Geschichte bei der Unabhängigkeit und den Bürgerkriegen des 19. Jahrhunderts“, sagt der 15-Jährige. Dabei läutete der Sturm auf den Nationalpalast das Ende der Diktatur ein. Ein sandinistisches Kommando nahm fast alle Parlamentsabgeordneten als Geiseln, Somoza musste nicht nur Lösegeld zahlen, sondern auch die sandinistischen Gefangenen freilassen, die wenige Monate später den Volksaufstand anführen sollten. Darüber weiß Fernando ebenso wenig wie über Augusto C. Sandino, dem Freiheitshelden der Sandinisten: „Ich glaube, der war Soldat und hat in der Armee gearbeitet.“

Wie das Symbol einer untergegangenen Welt steht die haushohe metallene Silhouette des Sandino mit dem breitkrempigen Hut noch immer am Rande des Kratersees von Tiscapa, mitten in Managua. Die antisandinistischen Regierungen der letzten Jahre wagten es nicht, sie zu entfernen. Schließlich war Sandino, der General, der gegen die Besatzungstruppen der USA rebellierte und den Somoza 1934 ermorden ließ, ein Liberaler. Doch sonst hat sich das Gesicht von Managua seit den Tagen der Revolution gründlich verändert. Der Nationalpalast, wo jetzt die Finanzbehörde sitzt, ist herausgeputzt. Gegenüber wurde als Spende Taiwans ein klotziger Präsidentenpalast errichtet. Dazwischen auf dem Revolutionsplatz – heute Platz der Republik – sind die vielen Blumenbeete umzäunt. Kein Platz für Massenveranstaltungen mehr, wo früher unzählige sandinistische Feiern stattfanden. Und die Brache vor dem Hotel Intercontinental ist einer Shopping-Mall mit Multiplex-Kinos gewichen.

Doch der Versuch, Managua mit Prachtbauten und Leuchtreklamen in ein Abbild von Miami, dem Mekka für Emigranten und Einkäufer aus Zentralamerika, zu verwandeln, macht abseits der großen Straßen Halt. Auch wenn an der Carretera Masaya ein schickes Vergnügungsviertel entstanden ist und an den Hängen der südlichen Ausfahrtsstraßen die Villen aus dem umgewidmeten Ackerland gewachsen sind – meist werden stacheldrahtbewehrte Mauern hochgezogen, bevor ein Bau beginnt. Denn wo es etwas zu holen gibt, muss jederzeit mit bewaffneten Überfällen gerechnet werden. Wo nicht, da montieren Diebe das Wellblech von den Dächern ab oder nehmen ein paar hundert Meter Telefonkabel mit. In den Barrios sieht es so trostlos aus wie eh und je. Das Bolonia-Viertel, rund um die billigen Absteigen, die nach wie vor von Rucksacktouristen bevölkert sind, hat sich seit den Tagen der Revolution kaum verändert.

Wenn man Managua verlässt, ist von Fortschritt wenig zu bemerken. Zumindest auf den ersten Blick. In La Posolera, einem winziger Weiler bei Waslala, fünf Autostunden nordöstlich von Managua, finanzierte der österreichische Schauspieler Dietmar Schönherr einst Genossenschaftsprojekte. Die Kooperative Rubén Sorto, mitten im Kriegsgebiet, wurde als Wehrgemeinschaft gegen die Konterrevolutionäre organisiert. „Wir hatten das Gewehr in der einen Hand, und die Machete für die Arbeit in der anderen“, erinnert sich Mercedes Chavarría. Der für die Region typische weiße Cowboyhut gibt seinem furchigen Gesicht einen verwegenen Ausdruck. Don Mercedes ist einer der letzten der alten Genossen hier. Er trotzte den Contras und 1988 dem Wirbelsturm „Joan“. Und er war einer der wenigen, der nicht verkaufte, als die neue Regierung die Parzellierung von Genossenschaftsland forcierte. Er wollte mit seinen damals 50 Jahren und den 13 Kindern nicht noch einmal weg. „Zuletzt blieben von der ursprünglichen Genossenschaft nur mehr fünf Hektar Mitglieder übrig“, erzählt er, wie es mit der Kooperative zu Ende ging. Als Schönherr Mitte der 90er noch einmal zu Besuch kam, fand er kaum noch bekannte Gesichter vor.

Die Gemeinde Waslala erinnert noch heute an den Wilden Westen. Die Bauern sind zu Pferd unterwegs, die verschlafenen Bars stinken nach billigem Schnaps. Und der Pfarrer ist mit seiner Freundin auf eine Farm gezogen und hat heute vier Kinder. Aber das ist nicht alles. Eine neue Genossenschaft hat sich gebildet, die Kakaokooperative Cacaonica, die für den deutschen Schokoladefabrikanten Ritter organischen Kakao produziert. Die Genossenschaftsidee, die vor zwanzig Jahren für die eigenbrötlerischen Kleinbauern zu früh und zu schnell gekommen war, setzt sich durch. Nach und nach haben sich die Bauern, die lange vom Argwohn gegen die Wehrgemeinschaften geprägt waren, überzeugen lassen, dass die gemeinsame Vermarktung und die Beratung der Genossenschaft für sie Vorteile brachten.

Das gehört für Dora María Téllez, eine der Anführerinnen des Sturms auf den Nationalpalast, zum wichtigsten Erbe der Revolution. Sie hat gesehen, wie gemeinsame Arbeit auch die ehemaligen Gegner zusammenführt: „Ich habe eine Genossenschaft beraten, da war die Hälfte früher bei der sandinistischen Armee und die andere Hälfte bei der Konterrevolution“, erzählt sie. Revolution heiße nicht, dass die Sandinisten an der Macht sind: „Revolution spielt sich in den Köpfen ab.“