Ein Pole als Präsident

Der frühere Außenminister Geremek wäre ein Vertreter der linksliberalen Mehrheit im Parlament

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Die Idee ist bestechend: Die Fraktionen des Europaparlaments werfen machttaktische Bedenken über Bord, lassen strategische Spielchen beiseite und machen den 72-jährigen Europaabgeordneten Bronislaw Geremek zum neuen Präsidenten des Europäischen Parlaments. Geremek ist nicht irgendwer: Der Historiker gehört zu den wichtigsten Architekten des neuen Polen nach 1989 und war vier Jahre lang Außenminister seines Landes. Schon zehn Jahre zuvor beriet er Arbeiterführer Lech Walesa und war unter der Militärdiktatur ein Jahr lang interniert.

Für das frisch gewählte, um acht osteuropäische Staaten erweiterte Europaparlament wäre der fließend Englisch und Französisch sprechende Denker und Staatsmann aus dem größten neuen Mitgliedsland eine ideale Galionsfigur. Doch wahrscheinlich wird alles ganz anders kommen, wenn diese Woche bei der Plenarsitzung in Straßburg die Posten neu verteilt werden. Denn die beiden größten Fraktionen, Konservative und Sozialdemokraten, haben ein „technisches Abkommen“ getroffen, um sich die Mehrheit im hohen Haus zu sichern.

In die europäische Parteienlandschaft ist nämlich Bewegung gekommen. Vier Wochen nach der Europawahl haben sich Liberale und proeuropäische Abweichler der konservativen Europäischen Volkspartei zur „Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa“ (ALDE) zusammengetan. Die neue Gruppe bringt im Europaparlament 88 Abgeordnete hinter sich – die Liberalen allein hätten nur 66 Mitglieder gehabt. Auch in den anderen Ecken des Parteienspektrums ist die Gruppenbildung noch längst nicht abgeschlossen.

Der ehemalige Kommissionsbeamte Paul van Buitenen, der als Korruptionsbekämpfer Schlagzeilen machte und den Sturz der Santer-Kommission beschleunigte, holte aus dem Stand zwei Parlamentssitze für seine neue niederländische Partei „Europa Transparant“. Er wollte sich eigentlich den Euroskeptikern um den Dänen Jens-Peter Bonde anschließen. Seit aber klar ist, dass auch die britischen Antieuropäer von UKIP und die polnische ultrakonservative Familienliga zu Bondes neuer Parlamentsgruppe Unabhängigkeit/Demokratie gehören werden, hat sich van Buitenen den Grünen zugesellt. Die bekamen am Mittwoch weiteren Zuwachs: von der Dänin Margrete Auken von der Sozialistischen Volkspartei.

Jens-Peter Bonde vermochte gestern nicht zu prognostizieren, wie viele Mitglieder seine neue Gruppe haben wird. „Das ändert sich stündlich. Derzeit gleicht das Europaparlament einem Marktplatz, wo Mitgliedschaften und Posten verkauft und getauscht werden“, sagte er der taz. Eine Doppelspitze soll die zwei Strömungen in der neuen Gruppe repräsentieren. Jens-Peter Bondes Untergruppe will die Europäischen Institutionen transparenter machen und ihren Einfluss auf nationale Politik zurückdrängen. Die Gefolgsleute von UKIP-Mann Nigel Farages haben das Ziel, die EU zu verlassen. Beide Gruppen eint die Ablehnung der neuen Verfassung und der Plan, sich als größere Gruppe den Zugriff auf Ausschüsse und andere Schlüsselpositionen im parlamentarischen Tagesgeschäft zu sichern.

Konservative und Sozialisten versuchen die Lage angesichts unklarer Mehrheitsverhältnisse durch ihr „technisches Abkommen“ unter Kontrolle zu halten. Sie wollen am 22. Juli den konservativen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten, den Portugiesen Durão Barroso, gemeinsam auf den Schild heben. Bei seiner Anhörung vor der sozialistischen Fraktion verstand der es geschickt, sozialdemokratische Positionen in seine Antworten einzuflechten.

Im Gegenzug sollen die Sozialisten für die ersten zweieinhalb Jahre den Posten des Parlamentspräsidenten zugeschanzt bekommen. Für die zweite Hälfte der Legislatur soll der EVP-Fraktionsvorsitzende Hans-Gert Pöttering das Amt übernehmen. Der sozialistische Anwärter, der Spanier Josep Borrell, stellte sich diese Woche den Fragen aller Parlamentsfraktionen. Auf die kritischste Anmerkung, die von Grünenchef Daniel Cohn-Bendit kam, wusste er aber keine befriedigende Antwort: Was die Wähler wohl davon halten sollten, wenn sich ein Sozialist mit Hilfe der Rechten küren lasse und Politik nur noch als abgekartetes Spiel erscheine?

Die Grünen wollen Bronislaw Geremek unterstützen. Um die Sozialisten mit ins Boot zu holen, schlagen sie vor, Borrell für die zweite Hälfte der Legislatur zum Parlamentspräsidenten zu machen. Man könnte einwenden, dass ein solcher Deal den Wählern ebenfalls missfallen muss. Doch kämen damit immerhin zwei Kandidaten zum Zug, die die Mitte-links-Mehrheit im Europaparlament eher widerspiegeln als der farblose Konservative Pöttering. Dessen politische Familie EVP stellt zwar mit 268 Abgeordneten die größte Gruppe. Doch Sozialisten und die neue proeuropäische Allianz bringen 288 Stimmen zusammen, mit den Grünen wären es sogar 330. Zwar kommt in den ersten drei Wahlgängen nur zum Zug, wer die Mehrheit aller abgegebenen Stimmen hinter sich bringt. Der vierte Wahlgang aber ist eine Stichwahl zwischen den zwei Stimmenstärksten, da hätte Geremek die besseren Karten.

Als der von dem grünen Abgeordneten Claude Turmes gefragt wurde, wie er das Stimmenkartell der beiden großen Parteien zu durchbrechen gedenke, lachte er: „In Polen gibt es ein Sprichwort: Wenn man mit Taktik nicht weiterkommt, muss man es mit Ehrlichkeit versuchen. Wir können nur appellieren, dass die Abgeordneten in geheimer Abstimmung ihrem Gewissen folgen.“ Heute wird sich zeigen, ob die Abgeordneten gute Argumente schätzen – oder doch eher die einheitliche Fraktionslinie.