Der studierte Breakdancer

Seine HipHop-Gemeinde sieht es als Verrat: Bruno Beltrão will den Tanz der Straße mit Abstraktion und Stille koppeln. Bei Tanz im August gehört seine „Grupo de rua de Niteroi“ zu den Entdeckungen

von JANA SITTNICK

Manches ist nicht das, was es zu sein scheint: Wenn Bruno Beltrão nachdenkt, am Laptop sitzt und mit Tänzern diskutiert, anstatt Bewegungsmaterial durchzugehen, glauben nicht einmal seine engsten Vertrauten, dass daraus ein furioses Tanzstück entstehen kann. Stundenlang wird geredet, bis die Tänzer maulen, die Assistentin den Bildschirm ausknipst und die Schwester des Choreografen das Gruppenwohl anmahnt. „Manchmal bin ich so sehr in das Denken verliebt“, gibt Beltrão lachend zu, „dann bin ich unerträglich.“

Der ehemalige Breakdance-Boy liebt die „Langsamkeit des Denkens“, mit Begeisterung liest er Nietzsche und Aristoteles. Mit ähnlichem Enthusiasmus hat der brasilianische Tänzer, der jetzt zu den ersten Gästen des gerade gestarteten Festivals „Tanz im August“ gehört, vor einigen Jahren noch die Floats und Headspins, das Popping und Locking, den Freeze und die Up-Rocks vollführt: das Breakdance-Repertoire in Vollendung. Dann führte sein Weg von der rasanten Akrobatik über die Stille und Abstraktion zu einer atemberaubenden Hybridform aus HipHop-Kultur und modernem Tanz. Heute arbeitet der 23-Jährige sowohl mit DJs, Old-School-Beats und den „Moves“ der B-Boys als auch mit zeitgenössischen Bewegungselementen.

Beltrão gilt als erfolgreichster Nachwuchschoreograf Brasiliens. Mit seiner aus fünf Tänzern bestehenden „Grupo de rua de Niteroi“ reist er auf internationale Tanzfestivals, nach Japan, Frankreich, in die Niederlande und jetzt auch nach Berlin. Die drei Stücke, die hier als deutsche Uraufführungen von ihm zu sehen sein werden, spiegeln seine Entwicklung wider. Mit sechzehn Jahren begann er in seiner Heimatstadt Niteroi, einem Vorort von Rio de Janeiro, mit Break- und Streetdance. Er tanzte mit den anderen Jungs aus Spaß und organisierte Wettbewerbe, so genannte Battles, der akrobatischen Hochleistung. Mit zwanzig wechselte er die Szene, gründete seine eigene Kompanie und begann, zeitgenössischen Tanz zu studieren.

„Der Eintritt ins Tanz-College war der erste Umkehrpunkt für mich“, erinnert sich Beltrão, „ich sah plötzlich nicht mehr nur Streetdance, ich lernte Geschichte und Zusammenhänge, und ich wusste, dass ich nicht mehr zurück zur Straße gehen kann.“ Der Überdruss an der nur auf das Äußere, Akrobatische setzenden Form des Streetdance hatte den 20-Jährigen zur Theorie gebracht. Er hörte selbst auf zu tanzen, fraß die Kurse in Kunstgeschichte, Tanztheorie und Tanzgeschichte in sich hinein und arbeitete an eigenen choreografischen Konzepten. „Ich wollte Distanz nehmen zu dem, was ich tue, wollte fragen, was passiert und warum. Das konnte ich im Streetdance, wo es auf das Visuelle und die Virtuosität ankommt, nicht.“

Mit seiner Sehnsucht, „Gedanken“ in seinen Tanz zu bringen und die Ideen hinter dem Sichtbaren aufleuchten zu lassen, passt er bestens in das Programm der Tanzwerkstatt, die in all den Jahren des Festivals „Tanz im August“ immer wieder nach den Verknüpfungen von Körperkonzepten und Denkweisen sucht. In Beltrãos erster Choreografie, dem Duo „From popping to pop and vice versa“, sind die Breakdance-Moves durchaus erhalten. Nur bilden sie nicht mehr ein in sich geschlossenes System, sondern werden im abrupten Wechsel von Modern-Bewegungen unterlaufen. Auch im Sound geht es von dröhnenden Beats unvermittelt über zu absoluter Tonlosigkeit. Ein bewusst gewählter „clear cut“, der Transformation nicht als Prozess zeigen will, sondern als Fakt vor die Augen stellt. Das Tanztheaterpublikum hat ihm diese fremde Verschiebung des Breakdance in neue Kontexte mit viel Anerkennung gedankt. Die HipHop-Gemeinde Brasiliens allerdings nicht. „Die haben mir Verrat vorgeworfen, weil ich nicht mehr ihre Formen eingehalten habe. Das sind ziemliche Fundamentalisten“, sagt Beltrão. Er versucht, die Kränkung wegzulachen. Fundamentalist sei er auch, wenn es um seine Reflexionen geht und darum, sie umzusetzen.

Seine Schwester Mariana, die seit kurzem die Kompanie managt, meint, er sei der „General“. Die Tänzer nennen Bruno Beltrão „Chef“, und bei den Proben sage er manchmal gar nichts oder: „Das ist schrecklich, alles noch mal von vorn.“

Mit nur drei Stücken verschaffte sich die Grupo de rua de Niteroi einen bemerkenswerten Platz im Kulturbetrieb Brasiliens: Mit ihrem ersten Stück wurde sie schon 2001 auf das bekannteste Tanztheaterfestival des Landes, das „Panorama Rio Arte de Danca“, eingeladen. Die größte Tageszeitung, der O Globo, lobte Beltrão zweimal in Folge als Künstler des Jahres aus. Die Kompanie wird finanziell von der Stadt Niteroi unterstützt und spielt genügend Geld auf Festivals ein. Beltrão kann von seiner Kunst leben – und das ist nicht nur in Brasilien eine Ausnahme. Im nächsten Jahr will er an längeren Stücken arbeiten und sich an der Philosophischen Fakultät der Universität von Rio de Janeiro einschreiben. Um die „Süße des Denkens“ zu genießen, wie er sagt.

Grupo de rua de Niteroi, 16.–18. 8., 20 Uhr, Theater am Halleschen Ufer