Go East – in ein Niemandsland

Ein Glücksfall für die deutschsprachige Reiseliteratur. Wolfgang Büschers Buch: Berlin–Moskau

Eine Entfernung, die wir höchstens mit dem Flugzeug überbrücken würden, hat Wolfgang Büscher auf dem Landweg hinter sich gebracht: Berlin–Moskau, wie auch der Titel seines Buches lautet, das im Frühjahr erschien. Im Reisegepäck führte er zwei Hemden, zwei Hosen und Notizbücher mit sich – im Kopf rudimentäre Russischkenntnisse und die Last der Geschichte: Die Strecke hatten schon napoleonische Truppen und die deutsche Wehrmacht zurückgelegt.

Er geht den 1.850 Kilometer langen Weg zu Fuß. In 82 Tagen läuft der Autor von seiner Berliner Wohnungstür bis nach Moskau, überquert Oder, Memel und Dnjepr, übersteht die Gluthitze des Hochsommers und kalte Herbststürme. Als er auf der Autobahn M 1 von einem Porsche mit Moskauer Kennzeichen überholt wird, fällt bereits der erste Schnee.

Sein Buch hat er nach den drei Ländern, die er durchwandert, strukturiert: „Berlin vergessen“, „Im weißen Land“, „Russische Weiten“. Die 237 Seiten sind alles andere als eine reißerische Reportage. Jedes Kapitel verströmt eine erzählerische Ruhe, eine Sternstunde für die deutschsprachige Reiseliteratur. Büscher hat sein Tagebuch extrem verdichtet und literarisch überhöht. Er skizziert Landschaften, beschreibt Begegnungen mit Menschen, redet russisch, diagnostiziert gegenwärtige Phänomene und bereichert seinen Text um die historische Dimension.

„Eine Reise zu Fuß“, so der Untertitel des Buches, verfügt über eine Fülle von sprachlichen Bildern, wie sie keine lllustrierte mit Fotos wiederzugeben vermag. Das Unerwartete bei der Lektüre sind jene Passagen, in denen Büscher von seiner direkten Route abweicht, die Trasse verlässt und sich auf spirituelle Umwege einlässt. Wenn er mit einem sibirischen Yogi in der Sauna schwitzt oder einen mysteriösen Priester aus Smolensk im tiefen Wald besucht. Er trifft auf die Spuren des Krieges, und es war nicht der Krieg der Deutschen, es war der Krieg der Russen gegen sich selbst. Er beklagt den Schrott des Systems, den „Hausschrott. Staatsschrott. Essenundtrinkenschrott. Autoschrott. Atomschrott. Stadtlandflussschrott.“ In der ehemaligen Bergarbeiterstadt Sofonowo kommt er mit Nina ins Gespräch. Auf die ihm häufig gestellte Frage, wie er das Land findet, antwortet er: „Ich liebe Russland. Ich hatte das gesagt, um etwas zu sagen, was dem Mädchen in dieser sterbenden Stadt gefiel, in der nachts Männer auf den Balkonen standen, mit dem Rücken zu ihren Frauen, allein, rauchend, und in die Nacht hinaus sahen, ihren wirren Gedanken nachhingen. Es schnitt mir ins Herz, sie taten mir Leid, mir schien, eine einzige Umarmung hätte die Macht, sie zu erlösen. Ja Ijublju Russija.“

TILL BARTELS

Wolfgang Büscher: „Berlin–Moskau. Eine Reise zu Fuß“. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, 242 Seiten, 17,90 €