Himmlischer Beistand nötig

Am Matterhorn steht man dem Ansturm der Dilettanten hilflos gegenüber: Möchtegern-Alpinisten mit kläglichem Konditions- und Kenntnisstand, aber bester Ausrüstung aus Outdoor-Shops, wollen den imageträchtigen Gipfel dennoch bezwingen

von GERHARD FITZTHUM

Ende Juli war es wieder einmal so weit. Eine dreiköpfige Seilschaft geriet am Matterhorn in Bergnot. Um 22.15 Uhr ging der Notruf bei der Bergwacht ein. Die drei Deutschen waren auf der italienischen Seite aufgestiegen und hatten beim Abstieg nach Zermatt dann die Orientierung verloren. Als sie sich in der fast senkrechten Ostwand abseilten, brach eine falsch montierte Verankerung, und einer der drei stürzte in den Tod. Im Blick auf solch haarsträubenden Leichtsinn erscheint es nur allzu verständlich, dass die Bergführer von Zermatt immer wieder göttlichen Beistand erflehen. Sie tun dies indirekt, indem sie jedes Jahr ihre Kletterseile zur Fronleichnamsprozession mitbringen, um sie vom Pfarrer segnen zu lassen.

Natürlich wirkt dieses Ritual antiquiert – im Hightech-Zeitalter ist die Sicherheit der Seile kein Thema mehr. Aus unreißbarem Polyestergewebe bestehend und mit Polyamid-Monofil umflochten, sind sie praktisch unverwüstlich. Die Segnung der Seile verweist nicht nur auf die tiefe Religiosität der Walliser, sondern auch auf den größten anzunehmenden Unfall, der sich am Matterhorn am 14. Juli 1865 ereignete. Damals war der Erstbesteiger Edward Whymper mit seinen sechs Seilkameraden schon auf dem Abstieg, als es passierte. Ein junger Engländer glitt aus, die anderen versuchten zu sichern. Doch dann riss das Seil, drei Briten und ein Bergführer stürzten in den Tod. Die Englische Königin forderte daraufhin, den Risikosport im Gebirge zu verbieten – für angehende Bergsteiger-Metropolen wie Zermatt ein Horrorszenario.

Zur Freude der Zermatter Tourismusindustrie ist der Freiheit der Selbstgefährdung kein Riegel vorgeschoben worden. Von den fünf Todesfällen, die es in den letzten zehn Jahren unter Berufsführern gab, gehen mindestens zwei auf das Konto von Gästen, die besser das Kleine Matterhorn erobert hätten – mit der Seilbahn. Seit letztem Sommer müssen die Anwärter deshalb zuerst eine Trainingstour absolvieren, die dem Bergführer ein Urteil über ihre Eignung erlauben soll.

Eine nennenswerte Eindämmung folgenschwerer Unfälle ist von dieser Maßnahme freilich nicht zu erwarten. Zwei von drei Gipfelstürmern nehmen den Berg nämlich ohnehin auf eigene Faust in Angriff. Geschätzt wird, dass jeder Dritte von ihnen den technischen und psychischen Anforderungen einer Matterhornbesteigung nicht gewachsen ist und umkehren muss. Diese Möchtegern-Alpinisten gefährden nicht nur sich selbst, sondern stellen auch für die anderen Bergsteiger ein Sicherheitsrisiko dar, vor allem an den Schlüsselstellen, an denen sie nicht weiterkommen. An Ausrüstung mangelt es ihnen dabei fast nie. Oft erkennt man den Dilettanten am perfekten Equipment – bis zu dreißig Kilo schleppt er den Berg hinauf, ohne es fachgerecht anwenden zu können. Um die Absturzzahlen zu senken, dachte man einmal darüber nach, an der Hörnlihütte eine Kontrolle der Ausrüstung durchzuführen. Doch dieser Plan wurde schnell wieder verworfen: Denn da wären vor allem die Kenner und Experten durchs Raster gefallen. Die können ihr Gepäck auf das Nötigste reduzieren, weil sie dabei haben, was es in Outdoor-Shops nach wie vor nicht zu kaufen gibt: Erfahrung.

In der Saison 2001 gab es mit achtzehn Toten am Berg einen neuen, traurigen Rekord, im letzten Sommer starben dagegen nur acht Alpinisten – unterdurchschnittlich wenige, weil das Wetter in den entscheidenden Wochen so schlecht war, dass nicht einmal Lebensmüde den Anstieg wagten. Die Unfälle auf der italienischen Seite eingerechnet, ereignen sich im Durchschnitt zehn bis zwölf tödliche Abstürze im Jahr – meist unter Zeitgenossen, die ohne Seil gehen. Eine statistisch signifikante Zunahme von Todesfällen ist seit Beginn der Aufzeichnungen nicht zu erkennen, wohl aber die der Rettungseinsätze. Pro Saison rückt der Helikopter der Zermatter Bergwacht inzwischen 1.200 Mal aus, um Verletzte und Verzweifelte aus Fels und Eis zu holen, nicht wenige davon vom Matterhorn.

„Es mangelt heute einfach am Mangel“, sagt Bruno Jelk, der Zermatter Rettungsobmann, es sei alles zu einfach und komfortabel geworden: Die Bergbahn bringt die Gipfelaspiranten bereits auf 2.500 Meter, man hat das Handy im Rucksack, um sich im Fall des Falles abholen zu lassen, und das Rettungswesen ist perfektioniert: Man kann sich auf Hubschrauberpiloten verlassen, die es gelernt haben, Verunfallte aus allen Winkeln der Wand zu holen – auf Rettungskräfte, die für den Leichtsinn vermeintlicher Alpinisten tagtäglich ihr Leben riskieren.

Beinahe makaber wirkt da das große Teleskop-Fernrohr, das vor einigen Jahren zwischen Kirche und Friedhof aufgestellt wurde. Die Firma Swatch hat es anlässlich eines Betriebsjubiläums der Gemeinde Zermatt geschenkt. Es ist unbeweglich und – wie könnte es anders sein – auf die kahle Felspyramide gerichtet, die das Herz jedes Alpinisten höher schlagen lässt. Wer früh morgens hindurchschaut und sieht, wie sich Kolonnen von Seilschaften und Einzelgängern den Hörnligrat hinaufbewegen, kann sich an die Zermatter Fronleichnamsprozession erinnert fühlen. Ein paar Stunden später ist dann auch noch der Himmel bevölkert – mit Rettungshubschraubern und den zivilen Helikoptern der Air Zermatt AG, die Rundflüge für Schaulustige veranstaltet. Ein Segen, dass man sich nicht auch noch um die Haltbarkeit der Seile sorgen muss.