debatte: für eine reformfreudigere schulpolitik in nrw
: Mögliches anpacken und noch nicht Machbares anstreben

Hinter dem plakativen Aktionismus der nordrhein-westfälischen Bildungspolitik verbergen sich Schwäche und Mutlosigkeit

Der Auftrag nach PISA ist eindeutig: Die Politik muss die wachsende bildungspolitische Einsicht in der Gesellschaft aktiv aufgreifen und verstärken, dass nur in einem integrativen Schulsystem die Lernkultur des Förderns statt des Aussortierens gedeihen kann. Offensichtlich ist doch, dass immer mehr gesellschaftliche Akteure den Glauben an die begabungs- und leistungsgerechte Verteilung der Kinder auf die verschiedenen Schulformen und Bildungsgänge verlieren. Gleichzeitig geraten gesellschaftliche Ausgrenzung benachteiligter Schichten und Gruppen und soziale Polarisierung durch Bildungsarmut als Folgen des derzeitigen Strukturdilemmas immer schärfer in den Blick. Mit unserem selektiven Schulsystem können notwendige Qualifikationsanforderungen für die wirtschaftliche Entwicklung zukünftig nicht mehr sichergestellt werden.

Wir brauchen auch eine Politik, die die Lehrerschaft zum Umgang mit Heterogenität befähigt und ihr nicht nur einen Förderauftrag, sondern auch die notwendigen Förderressourcen an die Hand gibt. Wir brauchen eine Verlagerung der Prioritäten auf den Elementar- und Primarbereich, um frühzeitig herkunftsbedingte Nachteile erfolgreich auszugleichen. Gefragt ist eine bildungspolitische Gesamtstrategie, mit der das jetzt schon Mögliche in eigener Regierungsverantwortung angepackt und das noch nicht Machbare wie die Schulstrukturreform über die Herstellung einer gesellschaftlichen Mehrheit angestrebt wird.

Als hätte es die Mahnung der PISA-Studie nicht gegeben, prasseln unausgegorene Maßnahmen ohne eine faire Beteiligungschance auf Lehrer, Schüler und Eltern herunter. Mit der Verkürzung der Regelschulzeit auf zwölf Jahre für Gymnasiasten, der Einführung des Zentralabiturs und der teilzentralen Abschlussprüfungen nach Klasse Zehn drohen neue selektionsverstärkende und sozial segregierende Wirkungen. Die so genannte Output-Steuerung über Leistungsstandards in Verbindung mit neuen Kernlehrplänen entpuppt sich allenthalben als alter Wein in neuen Schläuchen: Was ein Schüler am Ende können soll, wird nämlich nicht an einem Mindeststandard orientiert, der für alle gilt und für dessen Erreichen die Schulen ebenso Verantwortung übernehmen wie für die Ermöglichung des Überschreitens je nach individuellem Leistungsvermögen. Die erwarteten Kompetenzen bleiben an den Schulformen orientiert und reproduzieren so den hierarchischen Aufbau unseres Schulsystems mit ungleichen Bildungschancen. Mit all diesen Maßnahmen folgt Nordrhein-Westfalen brav der bildungspolitischen Ausrichtung, die konservative Landesregierungen vorgegeben haben.

Eines der wichtigsten Vorhaben der NRW-Bildungspolitik, die Grundschulreform, wird dagegen nur halbherzig angepackt. Damit wird das Ziel verfehlt, die Grundschule zu einer Schule für wirklich alle Kinder weiterzuentwickeln. Brandenburg und Berlin zeigen, wie etwa die Ressourcen der Sonderpädagogen durch Verzicht auf Sonderschulklassen sinnvoll in die Eingangsphase der Grundschulen verlagert und zur frühen Förderung pädagogisch genutzt werden. So lassen sich negative lebenslange Folgen der Ausgrenzung durch Sonderschulüberweisungen vermeiden. Ebenso fatal ist es, dass die offene Ganztagsgrundschule als Modell für NRW gepriesen wird. Wenn das Programm nicht selber zu einem Beitrag der ungleichen Chancen werden will, müssen Grundschulen in besonders benachteiligten Stadtteilen ihre Kinder mit einem für alle verpflichtenden und kostenfreien pädagogischen Ganztagsschulkonzept versorgen.

Am Ende dieses Schuljahres erleben wir wie alle Jahre wieder, dass viel zu viele Schüler die Klassen wiederholen müssen oder ohne Abschluss und ohne Aussicht auf eine echte berufliche Perspektive in teuren Benachteiligtenprogrammen versorgt werden. Was wäre, wenn wir das dafür benötigte Geld zur Vorsorge ausgäben?

Wenn diese Landesregierung will, dass alles so bleibt, wie es ist, verspielt sie ihre politische Glaubwürdigkeit und hat die nächste Wahl schon verloren. BRIGITTE SCHUMANN