Schmalstieg ohne Schuss

Hannovers Oberbürgermeister will die Zuschüsse für die kontrollierte Heroinabgabe streichen. Damit stehen die Zukunft von 70 Junkies und der Erfolg einer bundesweiten Studie auf dem Spiel. Hinter den Kulissen wird heftig an Lösungen gebastelt

Aus HannoverKai Schöneberg

Er ist schon fast übern Berg. Nach dem großen Rückfall hatte Jochen M. wieder sechs Jahre an der Nadel gehangen. Täglich spritzte sich der 40-Jährige mindestens fünfmal das braune, todbringende Pulver in die Venen. Zuerst verscherbelte der Kaufmann aus Hannover nach und nach seine Besitztümer, dann „habe ich ein bisschen getickt“. Bis zu 70 Euro kostete ihn die Sucht jeden Tag. M. hatte 20 Kilo Untergewicht und etwa ebenso viele Entwöhnungsversuche hinter sich, als ihn die Sozialarbeiter im „Café Connection“, einer Anlaufstelle für Fixer in Hannover, zu einem bislang in Deutschland einzigartigen Experiment überredeten: zur kontrollierten Heroinabgabe. Das war vor zwei Jahren.

„Angesichts unserer Haushaltslage“ sei es „nicht mehr darstellbar“, dass die Stadt Hannover jährlich weiter 450.000 Euro für das Heroinprojekt beisteuere, hatte OB Herbert Schmalstieg (SPD) vergangene Woche den Ausstieg der Stadt aus der bundesweiten Studie (siehe Kasten) angekündigt. Und damit fast alles aufs Spiel gesetzt, was sich die 70 Schwerstabhängigen, die sich dreimal täglich in einem Bürobau im tristen Bahnhofsviertel der Stadt ihren Stoff abholen können, aufgebaut haben. Wie Jochen M. „Das war die beste Entscheidung meines Lebens“, sagt er heute. Er meidet den Kontakt zur Szene, wirkt psychisch stabil und fülliger als früher: „Ich passe kaum noch in meine Klamotten“, sagt Jochen M. Er hat eine Selbsthilfegruppe gegründet und sogar schon wieder gearbeitet.

„Sie haben sich hier zwei Jahre lang stabilisiert – und auch abgerackert. Nun werden sie abrutschen. Das wird den schlechten Zustand von früher toppen“, sagt Projektleiter Guido Sanders vom Drogenhilfeträger STEP. Überall Überwachungskameras, das Heroin ist „wie in einer Bank gesichert“, betont Sanders. Selbst der Name der Firma, die den Wirkstoff Diacetylmorphin aus Rohopium im kontrolliertem Anbau in einem Land aus Südeuropa herstellt, solle lieber nicht genannt werden.

„Macht bitte nach dem ‚Drücken‘ Euren Platz sauber“ steht auf dem Schild im Drückerraum, wo M. um punkt 17 Uhr an einer Panzerglasscheibe um seine Dosis bittet. Die „Schore“ ist schneeweiß wie Puderzucker, eine Schwester füllt die kleinen Fläschchen mit dem Pulver mit destilliertem Wasser auf und zieht die durchsichtige Flüssigkeit in Spritzen. Nach dem Schuss wirkt M. noch ein bisschen blasser als sonst. Er zittert, „aber immerhin habe ich dank Heroin wieder Höhen und Tiefen, bei Methadon war alles nur schwarz oder weiß“.

Heroin wirke „stärker antidepressiv und angstlösend“, betont Torsten Ender, einer der Ärzte von der Medizinischen Hochschule, die das Projekt begleiten. Der „Beikonsum“ seiner Schützlinge mit Valium, Kokain oder Pillen sei im Vergleich zu den Methadon-Substituierten stark gesunken, sagt Ender. Viele müssten weiter für ihren Stoff anschaffen oder klauen gehen. „Die Methadon-Klientel hat eine bedeutend schlechtere Prognose. Ihre Situation ist viel bedrückender“, sagt Ender. Die Uni Zürich habe errechnet, dass die Heroinvergabe viel Geld sparen könne. Weniger Therapien, weniger Arztbesuche, weniger Ausgaben für Justiz und Polizei. Allein für Hannover wären das 1,5 Millionen Euro im Jahr.

Weil mit der Aufgabe des Projekts in Hannover nicht nur die Zukunft einiger Junkies, sondern auch die der gesamten Studie auf dem Spiel steht, wird derweil hinter den Kulissen heftig an Lösungen gebastelt. „Wir führen intensive Gespräche mit allen Beteiligten, um die Anschlussfinanzierung zu sichern“, sagte gestern STEP-Geschäftsführer Peterburs. Wenn die Studie erfolgreich ist und es vielleicht im Jahr 2007 Heroin in Deutschland auf Krankenschein gibt, so Ender, „dritteln sich die Kosten ohnehin“.