Licht aus, Radio an

von NICOLA LIEBERT
(New York) und NICK REIMER (Berlin)

Anfangs schien alles normal: Dass in ganzen Stadtteilen die Ampeln ausfallen, ist nichts Ungewöhnliches in der Chaosmetropole New York. Doch als immer mehr verwirrte Menschen aus den Häusern quollen, war das nicht mehr ganz so gewöhnlich. Bald kamen erste Gerüchte auf, der Stromausfall sei längst nicht auf New York beschränkt – „von Toronto bis Seattle ist alles aus“, wusste einer.

Freundliche Anwohner stellten ihre Transistorradios – volle Lautstärke – auf die Straße: Es stimmte. Der Stromausfall war nicht auf New York beschränkt. Immerhin waren wenigstens erste Befürchtungen, dass es schon wieder einen Terroranschlag auf New York gab, zerstreut. Geteilt hatten sie viele.

Kolonnen von Fußgängern setzten sich in Bewegung, um irgendwie nach Hause zu kommen. Andere begannen, der Situation langsam etwas abzugewinnen. Die Bars füllten sich, das Verbot, Alkohol auf offener Straße zu trinken, wurde ignoriert. Ein gigantisches Volksfest formierte sich bei Kerzenlicht. Noch bis spät in die Nacht waren Trommeln und immer ausgelassenere Stimmen aus den Parks zu hören, während die Polzei still Streife fuhr und nicht daran dachte, die Grünanlagen – wie sonst – um Mitternacht zu schließen.

Unklar war gestern jedoch weiterhin die Ursache eines Stromausfalls, von dem 50 Millionen Menschen im Nordosten der USA und in Kanada betroffen waren. Während Politiker beider Staaten sich gegenseitig die Schuld zuschoben, redete der frühere US-Energieminister Bill Richardson Klartext: „Wir sind eine Supermacht mit dem Stromnetz eines Dritte-Welt-Landes.“ Und: „Das Problem ist, dass niemand dafür sorgt, dass es genügend Leitungskapazität gibt.“ Zahlen zeigen: Während die Nachfrage nach Strom in den USA in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent stieg, wurde die Netzkapazität gerade mal um 15 Prozent erhöht. Allerdings, so der Sprecher des New Yorker Energiewerks, habe der Verbrauch am Donnerstag einige tausend Megawatt unter der Höchstleistung des Systems gelegen.

Stromausfall auch in Deutschland?

Stromausfall im größten High-Tech-Ballungszentrum der Welt – kann etwas Ähnliches auch in Deutschland passieren? „Natürlich“, sagt Greenpeace. „Natürlich nicht“, sagt das Bundeswirtschaftsministerium. Tatsächlich ist es ratsam, bei der Wahrheitsfindung zu analysieren, welche politischen Absichten der jeweilige Antworter verfolgt. Das Bundeswirtschaftsministerium will natürlich den Standort Deutschland nicht schlecht machen. Auf Bundesebene gebe es eine ministerielle Koordinierungsgruppe, die bei einem länderübergreifenden Energieausfall eingeschaltet werde – und das Problem beherrscht. Greenpeace hingegen geht es um Atomausstieg und dezentrale Energieversorgung. „Wenn die Stromerzeuger an ihrer momentanen Planung festhalten, sind solche Ausfälle auch bei uns möglich“, sagt Greenpeace-Experte Jörg Feddern. Die Energieversorger würden weiter auf Großkraftwerke setzen. Dazu käme ein gnadenloser europaweiter Wettbewerb. „Und solcher Wettbewerb ist für das Desaster in den USA verantwortlich: Um wettbewerbsfähig zu bleiben, werden Kosten gedrückt – etwa bei den Netzen, die vernachlässigt wurden“, so Feddern. Statt auf Großkraftwerke zu setzen, sollte Energieversorgung dezentralisiert werden. Feddern: „Fällt ein Windpark aus, sind 10.000 Haushalte betroffen. Fällt ein AKW aus, trifft es Millionen.“

Fakt ist: Das deutsche Stromnetz – aufgeteilt in vier Regelzonen – ist wesentlich engmaschiger als etwa in weiten Teilen der USA. So unterhält etwa die Netzsparte von Deutschlands zweitgrößtem Versorger RWE eines der größten privaten Stromnetze Europas: rund 175.000 Kilometer Freileitung und Erdkabel, von Niedersachsen bis zur Schweizer Grenze. Einschließlich der Beteiligungen umfasst das Stromnetz des RWE-Konzerns damit 355.000 Kilometer. „Gibt es im weitmaschigeren Netz Amerikas ein Problem in einem Streckenabschnitt, führt das schneller als in Deutschland zu Überlastungen der Alternativstrecken“, sagte Joachim Vanzetta, Leiter der Systemführung beim Netzbetreiber RWE Net. Dadurch entstünde ein Dominoeffekt, der in Sekunden große Flächen stilllegen könne. In Deutschland gebe es in den engmaschigeren Überlandnetzen mehr Redundanzen – Ersatzwege für den Stromfluss über andere Netzstrecken.

Grundsätzlich wollte Vanzetta aber nicht ausschließen, dass in Deutschland Ähnliches passieren könnte wie im Großraum New York: „Die Systeme sind physikalisch wie elektrotechnisch hier wie dort dieselben.“ Der Wettbewerb veranlasse die Netzbetreiber auch in Deutschland zum Kostensparen. Tendenz sei, die Redundanzen im Netz zu verringern – mit entsprechend höherem Ausfallrisiko. „Die Hitzewelle der letzten Wochen hat gezeigt, dass die deutschen Stromversorger auch für extreme Situationen vorgesorgt haben“, erklärte gestern Eberhard Meller, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Deutschen Elektrizitätswirtschaft. Für Erhalt und Ausbau leistungsfähiger Netze seien auch künftig hohe Investitionen erforderlich. „Deshalb fordert die Elektrizitätswirtschaft klare politische Rahmenbedingungen.“ Rahmenbedingungen, die in den USA fehlen.