Marx macht mobil

Einst war die SPD mächtig stolz auf ihr „Karl-Marx-Haus“ in Trier. Politprominenz aus aller Welt besuchte das Geburtshaus von Marx – ein Lourdes der Kommunisten. Heute halten nur noch Chinesen die Treue. Und die SPD übt sich in Distanz

VON MARCUS STÖLB

Gu Yan runzelt die Stirn, er grübelt. „Innovation!“, ruft er schließlich triumphierend, „Innovation!“ Der 22-Jährige wiederholt seine Erkenntnis und lacht, begeistert über die eigene Eingebung. Bis ihm seine Freundin ins Wort fällt: „Nein, Meinung. Marx für Meinung“, korrigiert Yu Xian aus Schanghai ihren Kumpel. Karl Marx stehe für Meinung. Und deshalb pilgerten alljährlich mehr als zehntausend Chinesen vom Reich der Mitte in die deutsche Provinz, wie die beiden behaupten. Nach Trier kommen sie, zur Geburtsstätte von Karl Marx.

Jeder dritte Besucher des Marx-Hauses reist inzwischen aus China an. Doch fragt man sie nach ihrer Motivation, weiß nicht einmal jeder zehnte eine plausible Antwort zu geben. Dann wird gestammelt und gelächelt, vor allem aber werden Fotos gemacht; Beweisfotos, damit sich auch die Zurückgebliebenen in Kanton, Schanghai und Peking später davon überzeugen können, dass die Verwandtschaft auch wirklich bei Marx vorbeigeschaut hat.

Marx in zehn Minuten – wer einen Zwölf-Stunden-Flug hinter sich hat, der hält sich nicht länger als nötig in Trier auf. Auch nicht Karl Marx zuliebe, der selbst im heutigen China noch bekannter ist, als es ein Horst Köhler bis vor kurzem hierzulande war. In silbermetallicfarbenen Kleinbussen fahren Yans Landsleute vor, parken im Halteverbot und postieren sich im Akkord vor der Fassade des Barockhauses. Die meisten betreten erst gar nicht das Gebäude, tun sie es doch, spielen sich meist Szenen wie auf einem Basar ab: „Die wollen immer wieder um das Eintrittsgeld feilschen“, berichtet eine Museumsangestellte, die seit mehr als zwei Jahrzehnten hier arbeitet. „Dabei fallen denen die Hundert-Euro-Scheine nur so aus den Taschen“, will sie beobachtet haben. Zwei Euro Eintritt jedoch – das scheint Maos Nachfahren der Marxismus dann doch nicht wert zu sein.

Weshalb sie dann hierher kommen? Schulterzucken, unsicheres Grinsen. Marxistische Folklore? Darin sind die chinesischen Volkrepublikaner ja geübt. Für Kommunisten aller Völker war Triers Marx-Haus lange Zeit das, was Lourdes oder Fatima noch heute für Katholiken ist: eine Pilgerstätte. Nur dass es schon immer mehr echte Katholiken als überzeugte Kommunisten gab und sich heute selbst die fromme Linke rar macht.

In den Hoch-Zeiten des real existierenden Sozialismus, als der so genannte Eiserne Vorhang noch hing und Mauer, Stacheldraht und Reisebeschränkungen noch existierten, reiste meist nur ausgewähltes Publikum zur Wiege des Marxismus. Hua Guofeng war so ein Polit-Tourist, der sich Ministerpräsident der Volksrepublik China nannte und als solcher 1979 nach Trier pilgerte. Auch der Präsident von Simbabwe oder Italiens einstiger Sozialistenführer Bettino Craxi schauten im Hause Marx vorbei. Und alles, was im Ostblock Rang und Namen hatte, gab sich hier die Klinke in die Hand.

Ausgerechnet Erich Honecker läutete dann das Ende des organisierten Funktionärs-Sightseeing ein: 1987 hatte der DDR-Staatsratsvorsitzende bei seinem BRD-Trip darauf bestanden, auch Trier zu besuchen. „Sie glauben gar nicht, was da hier los war“, erinnert sich die Museums-Angestellte noch heute an den damals bedeutenden Gast. Was „hier los war“ in all den Jahren, erfährt der Marx-Haus-Besucher von heute nur noch aus vergilbten Zeitungsausschnitten. Wer die Zeugnisse aufmerksam studiert, wird viele alte westdeutsche Sozialdemokraten wieder erkennen – die SPD muss einst mächtig stolz auf diese Stätte gewesen sein.

Die Leiterin des Marx-Museums, Professor Beatrix Bouvier, muss nicht lange überlegen, wann denn der letzte führende Sozialdemokrat hier gewesen ist: „Die kommen nicht“, stellt sie lapidar fest, während sie in ihrem Gästebuch für Prominente blättert. Beatrix Bouvier ist Realistin, und dass ihre Parteifreunde nicht mehr den Weg nach Trier finden, begründet die Historikerin folgendermaßen: „Den meisten fehlt doch heute ein Geschichtsbewusstsein“, die erste Garnitur sozialdemokratischer Führungspersönlichkeiten mit einbezogen.

In Bouviers Büro dominieren zwei Männer: Ein kleines Marx-Bild steht – ein wenig verloren – im Regal, an der Wand prangt unübersehbar ein Brandt-Porträt, Kunstdruck von Andy Warhol. Willy Brandt hatte das, was Bouvier „Geschichtsbewusstsein“ nennt und worauf sie immer wieder zurückkommt, wenn sie über Marx im Allgemeinen und die deutsche Politik im Besonderen redet. Doch Willy Brandts „Enkel“ zog bislang wenig ins Karl-Marx-Haus, auch wenn sie sich – wie Gerhard Schröder – einst als erklärte Marxisten ausgaben.

„Man wird Marx am besten gerecht, wenn man ihn – im Positiven wie Negativen – vom Podest der Unberührbarkeit holt“, forderte Brandt schon 1977, als er das Marx-Haus zum zweiten Mal besuchte. Auch wenn die SPD sich da bereits mit dem Godesberger Programm längst vom Marxismus verabschiedet hatte, so leugnete Brandt dennoch nicht die Bedeutung des Trierers für das Selbstverständnis seiner Partei: „Was immer man aus Marx gemacht hat oder hat machen wollen: Das Streben nach Freiheit, nach Befreiung des Menschen aus Knechtschaft und unmündiger Abhängigkeit war Motiv seines Denkens und Handelns.“

Derlei Sätze kämen heute wahrscheinlich selbst einem Oskar Lafontaine nicht mehr über die Lippen. Von dem Saarländer ist auch kein Besuch im Marx- Haus überliefert. Einträge namhafter deutscher Sozialdemokraten sucht man denn auch seit Ende der 80er-Jahre vergebens. Kamen einst Männer wie Carlo Schmid und Horst Ehmke, verirrt sich heute nur noch ein Kurt Beck hierher. Doch der ist rheinland-pfälzischer Landesvater und in dieser Funktion so ziemlich jede Woche in Trier. Zuletzt gab sich laut Gästebuch für Prominente der chinesische Handelsminister die Ehre.

Der Verdacht liegt nicht so ganz fern, dass die Abstinenz führender Sozialdemokraten auf deren Desinteresse an Marx schließen lässt. „Nein, ganz im Gegenteil“, widerspricht dem Karl Haehser, ehemaliger Staatssekretär und damit der einzige Trierer Sozialdemokrat in der Bonner Republik, der es zu etwas gebracht hat. Die Stadt war schließlich nie ein leichtes Pflaster für die SPD, und dass jetzt hier auch der Bischof Marx heißt, macht das Erinnern an den nach wie vor berühmtesten Sohn der Stadt nicht eben einfacher.

Wenn Haehser früher nach Bonn fuhr, begrüßten ihn seine Genossen häufig mit einem „Hallo, Herr Marx“. Auch in Berlin werde er noch häufig so angesprochen, sagt Haehser erkennbar stolz und will in der nicht ganz ernst gemeinten Anrede seiner Parteifreunde „ein nach wie vor ernsthaftes Interesse“ an Marx erkennen.

Dass so wenige Sozialdemokraten nach Trier pilgern, hat für den Staatssekretär a. D. denn auch vor allem mit dem Hauptstadt-Umzug zu tun: Von der alten Bonner Baracke habe man gerade mal zwei Stunden bis ins Marx-Haus benötigt, von Berlin sei man hingegen gut dreimal so lange unterwegs.

Marx und die SPD – eine schwierige Distanzbeziehung? Wohl wahr, doch die stetig wachsende Distanz ist eher mentaler Natur. Das glaubt auch Beatrix Bouvier, die weit davon entfernt ist, Marx zu glorifizieren. Doch ihn als Schmuddelkind in der Parteihistorie zu verstecken, hält die Historikerin für wenig originell. „Marx war und ist eine der Wurzeln der SPD.“ Auf dieser anhaltenden Bedeutung beharrt sie. Die Partei solle sich deshalb „auf das positive und negative Erbe“ seiner Lehren besinnen. „Der Marxismus als solches ist ohne Zweifel diskreditiert, aber die Sozialdemokraten sollten nicht vergessen, dass es ihm auch darum ging, den Kapitalismus zu bändigen“, glaubt Bouvier. Dies will sie den Verantwortlichen im Berliner Willy-Brandt-Haus in Erinnerung rufen.

Doch wie soll eine Partei, deren früherer Generalsekretär den Begriff „demokratischer Sozialismus“ aus dem Programm tilgen wollte, sich plötzlich wieder auf Marx berufen? Unter Brandt hätte es solche Diskussionen nicht gegeben, hatte der doch bereits 1977 in gebotener Distanz festgestellt: „Wenn es eine Verbindung zwischen Marx und der Sozialdemokratie gibt und beständig geben wird, dann die, dass es ihm wie uns um einen Sozialismus geht, der Freiheit voraussetzt und Freiheit bewirkt.“

Nun hat immerhin Björn Engholm seinen Besuch im Marx-Haus angekündigt. Sein Einfluss in der SPD ist zwar vergleichbar groß wie jener des Marxismus auf Chinas aktuelle Wirtschaftspolitik, doch er lässt sich nicht von Marx abschrecken. Schließlich hatte der eine ganz eigene Meinung von seiner Geburtsstadt: „Trier ist das kleinste und erbärmlichste Nest, voll von Klatsch und lächerlicher Lokalvergötterung.“