das sommerwunder (9)
: Nicolai Kwasniewski erklärt, warum der Sommer in Berlin so schön ist

Die Stadt blickt nach vorn

Tierschnuppen gibt es nur im Sommer. Vögel, Fledermäuse und Nachtfalter leuchten kurz auf – und verschwinden in der Dunkelheit. Ein kurzer Flug durch den Projektorstrahl, ein Aufglühen und das Publikum ist verzaubert. Draußen im Kino zu sitzen ist nicht vergleichbar mit der Welt, in der man normalerweise versinkt. Die Menschen tauchen nicht in den Film ein, starren nicht gebannt auf die Leinwand, führen keine filmtheoretischen Diskussionen. Im Freien ist die Umgebung der Inhalt – das Amalgam aus Filmbildern, Filmton, den Zuschauern, die mit faltbaren Liegestühlen kämpfen, das Öffnen von Bier- und Weinflaschen, das Mithören von Gesprächsfetzen.

In Berlin gibt es mehr Freilichtkinos als in anderen Städten und sie sind so unterschiedlich, dass ein Filmabend eine doppelte Realitätsflucht ist – aus der Stadt und aus dem Alltag. Draußen in der Hasenheide rauschen die Bäume, man wähnt sich im Wald. Einsamer geht es kaum, Berlin ist weit weg – und das tut gut. Im Friedrichshainer Kino könnte auch ein klassisches Konzert stattfinden, so schön sauber und viel zu geordnet ist es. Dafür kann man hier auf dem schönsten Rasen der Stadt liegen und den Film nur als Hintergrund laufen lassen. Auf der Museumsinsel sitzt man wie in einem antiken Amphitheater. Säulengänge rechts, links, im Rücken, die alte Nationalgalerie hinter der Leinwand. Schafft man es, die Bühne zu ignorieren, sitzt man irgendwo in längst vergangener Zeit.

Nicht nur Programmkino-Besucher sitzen, die Filmkunst würdigend, still und ehrfürchtig auf ihren Plätzen. Auch die Cinemaxx-Fraktion treibt es ins Freie. Der Film ist gar nicht so wichtig. Unter freiem Himmel ist der „Kinoabend“ ein anderer. Keine neonbeleuchteten Popcorn-Coca-Cola-Spielautomaten-Entertainmentcenter warten im Vorraum des Kinosaals. Natürlich gibt es auch hier das Kinofastfood. Aber wer will das schon? Die Selbstversorgung ist wichtigster und kreativster Bestandteil des Abends. Weinflaschen und Gläser, Kissen, Decken und Schlafsäcke. Baguettes, Kuchen und Obst. Bier, Zigaretten, vorgedrehte Joints. Ins Freilichtkino geht man nicht einfach so. Man darf trinken, man darf rauchen, man muss es sogar. Sonst ist es kein Freiluft-Sommer-Erlebnis. Nur ausgerechnet in Kreuzberg geht das nicht: Am Eingang wird man durchsucht, als würde man einen Flugsteig betreten – Getränke werden eingezogen. Zwar sind die Liegestühle okay, aber die Freiheit hat man mit dem Dosenbier an der Kasse abgegeben.

Will man der Stadt nicht entfliehen, sondern die Vorstellung auf der Leinwand als schützenden Film vor der Realität benutzen, legt man sich auf die schräge Fläche des Kulturforums. So nah kommt man an den Potsdamer Platz sonst nicht heran, ohne ihn hassen zu müssen. Rechts steht die Matthäikirche. Wenn deren Glocke schlägt, mischt sich der Klang mit dem Filmton, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischen. Links der Leinwand leuchten Sony, Deutsche Bahn und Sat.1-Ball, hinter den Zuschauern das Kulturforum, über der Leinwand die Sterne. Zurückgelehnt im Liegestuhl ist das Erlebnis seltsam unwirklich. Anfang August ist die Zeit der Sternschnuppen. Über der Leinwand verglüht eine nach der anderen. Das kollektive Raunen zeigt, dass der Film nur ein Randdetail ist. Hauptdarsteller ist der Sommer.