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: Micha Schulze weist in seinem Stadtführer „Rotz-Berlin“ den Weg vom Freiluft-Altersheim Tegel zum Schlachthaus Moabit

Berliner helfen Ferientieren

In diesem Jahr wird „Rotz-Berlin – Der einzig wahre Stadtführer, mit 10 Horrortouren zum Verlieben, allen Sehensunwürdigkeiten von A bis Z und zahlreichen Desinformationen für Einheimische wie Touristen“ zehn Jahre alt. Grund genug, dieses kleine Meisterwerk der Realsatire aus der Versenkung zu holen und noch unkundige, durch Merian-Hefte und Allegra-Trendguides verblendete Mitbürger auf den knallharten Boden der Berliner Realitäten zurückzuführen: „25 Tonnen Hundekacke pro Tag – Berlin in Zahlen“. So viele Fakten müssen sein.

Wer weiß schon, dass auf jeden Einwohner anderthalb Zierfische kommen? Oder dass 1991 über 900.000 Kraftfahrzeuge gezählt, 13.738 Menschen bei Verkehrsunfällen verletzt und 100 getötet wurden? Der Autor Micha Schulze kommentiert: „Autofahren bleibt damit eine gute Selbstmordmethode. Ohne Kfz nahmen sich 1990 gerade mal 589 Berliner das Leben.“

Schön auch zu erfahren, dass Berlin niemals vollständig rechtsextrem werden kann: „Höchstens 89 von 100 Berlinern würden sich voraussichtlich an Pogromen gegen Flüchtlinge und Immigranten beteiligen. Die übrigen besitzen keinen deutschen Pass.“

Das sind handfeste Tatsachen, die beruhigen. Blättert man weiter, vorbei an der „Chronischen Stadtgeschichte“ und den „Berüchtigsten Persönlichkeiten der Stadt“ (darunter mittlerweile demente oder verstorbene Berliner wie Harald Juhnke und Günter Pfitzmann), so findet man eine alphabetisch geordnete Liste aller „Sehensunwürdigkeiten“.

Als besonders besichtigungsunwürdig springen einem sogleich das Autobahnkreuz Schöneberg, die Reichssportfeldstraße in Charlottenburg (Namensgebung seit 1936 beibehalten) und das Schlachthaus Moabit ins Auge.

In Letzterem werden stündlich „60 Rinder, 140 Schweine und 100 Lämmer“ geschlachtet. Bei lebensnotwendigem Currywurst- und Dönernachschub hört die Tierliebe der Berliner offensichtlich auf. Um das schlechte Gewissen wieder loszuwerden, engagiert man sich dann z. B. im Verein „Berliner helfen Ferientieren“ – eine von vielen hilfreichen Institutionen, die wie der „Auto-Flirt-Service“, die „Deutsche Frühstücksei-Gesellschaft“, die „Vereinigung der Damenfriseure Charlottenburg 1902 e. V.“ und die Vereinigung „Deutsche Keilkreuzilluminaten“ samt Telefonnummern in „Rotz-Berlin“ aufgelistet sind.

Neben all diesen nützlichen Informationen schlägt der Stadtführer Touren durch verschiedene Bezirke vor, so zum Beispiel die beliebte „Hellersdorf-Safari“ („Wie viele Hellersdorfer Kinder müssen schon verhungert sein, weil sie den richtigen Hauseingang nicht fanden?“) oder „Das wahre Gesicht der Oranienstraße“, das sich entpuppt, wenn man vom Moritzplatz aus in die falsche Richtung läuft. Alternativ bieten sich Spaziergänge durch „das große Freiluft-Altersheim“ Tegel an oder auch die Suche nach der Natur in „Berlins Naherkrankungsgebiet Nummer eins“, Schöneweide.

Als Höhepunkt eines jeden Berlinbesuchs steht die „Anti-Villen-Demo“-Tour in Lichterfelde auf dem Programm. Einen besonderen Anlass braucht man nicht, da der Klassenkampf noch lange nicht beendet ist (schon gar nicht auf dem Berliner Wohnungsmarkt).

Der Text zur Auftaktkundgebung wird vorgegeben: „Miete verweigern, Kündigung ins Klo, Häuser besetzen sowieso!“ Ist aber alles nicht böse gemeint. Schließlich würde in „dieser gottverlassenen Gegend“ sowieso kein einziger Demoteilnehmer wohnen wollen: zu tot, zu langweilig, zu öde. Wie der Großteil der Schauplätze in „Rotz-Berlin“. Wie das richtige Leben.

TINA GINTROWSKI