Schröder hat nichts mehr zu sagen

DIE ANDERE HALBZEITBILANZ (ll): Die gefühlte Ungerechtigkeit nimmt zu. Da sind Botschaften gefragt. Doch der Kanzler hat keine. Das kann sein politisches Ende sein

Die Bürger wollen endlich verstehen, wie ihr Staat organisiert ist und wohin Steuern und Abgaben fließen

Kanzler Schröder habe zu einer neuen Rolle gefunden, analysieren derzeit viele Politikbetrachter. Er fühle sich wie Luther. Da steht er nun und kann nicht anders, der große Reformator von Gesundheitswesen, Rentensystem und Arbeitsmarkt. Zwar hält nur noch ein Viertel der Wähler zu ihm, aber ihm scheint das egal. Große Vorhaben erzeugen eben großen Widerstand.

Wie immer man das Bild vom Luther-Enkel Schröder finden mag – zumindest ein Unterschied verstört. Während Luther bildmächtig seinen Glauben und die Bibel in die Alltagssprache übersetzte und damit das Deutsche bis heute geprägt hat, kann Schröder seine Innenpolitik nicht auf den Begriff bringen. Er ist sprachlos. Als er 1998 als Kanzler antrat, da gab es immerhin noch den Slogan der „Neuen Mitte“. Diese Gruppenbezeichnung ist zwar schwammig, aber nicht bedeutungsleer. Inzwischen ist die Regierung bei der „Agenda 2010“ angekommen, die nur noch Hülle ist. Sie kann alles bedeuten. Oder nichts. Zuletzt zeigte sich der verbale Leerlauf nach der Kabinettsklausur in Neuhardenberg. Die Regierung hatte keine Botschaft mehr fürs Volk, sondern äußerte sich egomanisch nur noch zum eigenen Wir-Gefühl: Man sei „optimistisch“, „zuversichtlich“ und „ein Team“.

Es ist keine Bagatelle, dass Schröder keine Worte für seine Politik findet. Denn Macht hat nur, wer das Sagen hat. Luther wusste das und verfasste unermüdlich Flugblätter. CDU-Generalsekretär Heiner Geißler wusste es auch und fand selbst dafür in den 70er-Jahren einen Ausdruck: „Begriffe besetzen“.

Diesmal fällt allerdings auch der Opposition nichts ein. Die Union fahndet hektisch nach dem zündenden Begriff, doch bisher ist nur das Wort „Kopfpauschale“ aufgetaucht. Die meisten Bürger haben noch nicht verstanden, was das sein soll – ein Nachteil für jeden Wahlkampf. Vor allem aber klingt das Wort so unsympathisch, so sehr nach Verbrechen. Es erinnert an die Wanted-Plakate aus den Western.

Alle Parteien produzieren unermüdlich Presseerklärungen und Reformvorschläge. Dennoch herrscht verbale Leere – und also ein politisches Machtvakuum. Das ist vielleicht das überraschendste Ergebnis nach drei Halbzeiten Schröder-Regierung.

Wenn die Politiker nichts mehr zu sagen haben, dann prägen eben andere Protagonisten die Begriffe, denn der Wunsch der Bürger bleibt, sich irgendwie zu verständigen. Ein solcher Vocal Player ist schon deutlich zu erkennen: die Wirtschaft. Dafür hat sie sich durchaus in Unkosten gestürzt; mit 10 Millionen Euro jährlich finanziert etwa die Metallindustrie die „Initiative Neue soziale Marktwirtschaft“, die „Chancen für alle“ verspricht, wenn nur die Arbeitskosten sinken. Auch Gruppen wie die „Stiftung liberales Netzwerk“ oder „BürgerKonvent“ werden von Unternehmen gesponsert.

Aber diese Ausgaben wären gar nicht nötig gewesen, wie sich jetzt bei DaimlerChrysler zeigt. In Zeiten der andauernden Massenarbeitslosigkeit haben sich die Machtverhältnisse so eindeutig verschoben, dass die Beschäftigten Lohnkürzungen hinnehmen, um die Renditen der Aktionäre zu steigern.

Und noch ein zweiter Vocal Player ist ständig in Aktion: Das sind die Medien überhaupt, doch vor allem die Boulevardpresse und das Fernsehen. Sie transportieren die Botschaften der Wirtschaft, aber ergänzen sie auch, bilden den Widerstand ab. Etwa wenn sie immer wieder genüssliche Kampagnen fahren, um die allzu hohen Managementgehälter zu attackieren.

Wer einen Begriff prägt, muss vereinfachen. Komplexes wird auf den Punkt gebracht. Das kann entsetzlich schief gehen. „Florida-Rolf“ ist so ein Beispiel. Der 64-Jährige kassierte monatlich 1.906,20 Euro Sozialhilfe und ließ es sich in Miami gut gehen, wie Bild in wochenlanger Detailarbeit recherchiert hat. Die Regierung reagierte verschreckt auf die Kampagne: Sie verschärfte das Gesetz, das Sozialhilfe-Empfängern ausnahmsweise gestattet, im Ausland zu wohnen. Das kann durchaus teurer werden, schließlich liegen die Lebenshaltungskosten in vielen Ländern niedriger als in der Bundesrepublik.

Aber solche Kampagnen werden sich häufen in einem Deutschland, wo selbst kleine Angestellte eigentlich einen Steuerberater bräuchten. Demnächst dürften sie auch noch einen Gesundheitsexperten benötigen, der die günstigste Krankenkassenversion ermittelt. Keiner versteht mehr, wohin Abgaben und Steuern nun eigentlich fließen; die gefühlte Ungerechtigkeit nimmt rasant zu. Und die Verunsicherung. Da sind klare Botschaften gefragt – und Einzelfälle, die das schreiende Unrecht in Deutschland belegen.

Wie wäre es etwa mit diesem Fall? Susanne ist jetzt knapp über 40. Sie hat nie gearbeitet, war immer die Ehefrau eines sehr viel älteren Professors. Kürzlich verstarb er und sie bezieht nun lebenslang eine Pension von etwa 1.517 Euro monatlich. Auf Kosten des Steuerzahlers. So ein bequemes Dasein wird dem Langzeitarbeitslosen Erwin nicht zugestanden. Dreißig Jahre lang hat der Ingenieur in alle Kassen eingezahlt, bis er mit 50 seinen Job verlor. Ab Januar bekommt er nur noch 345 Euro plus Unterkunftskosten. Der Steuerstaat scheint die klare Botschaft auszusenden: Ihm ist die Ehefrau Susanne weitaus mehr wert als Erwin. Arbeit zählt nicht, eingezahlte Beiträge auch nicht, sondern nur der Status. Ist das gerecht? Diese Frage eignet sich perfekt für eine Wutkampagne.

Natürlich kann man den Fall auch anders sehen: Zum Beispiel war Susanne oft ehrenamtlich tätig. Auch ihren Mann hat sie bei seiner Arbeit kräftig unterstützt als eine Art unbezahlte Sekretärin.

Die Regierung äußert sich egomanisch nur noch zum Wir-Gefühl: Man sei „ein Team“ und „zuversichtlich“

Einzelfälle herauszupicken ist stets ungerecht, wenn damit die Ungerechtigkeit des Ganzen illustriert werden soll. Dennoch kann die mediale Vereinfachungssucht eine Chance sein. Es ist ja durchaus gerechtfertigt, dass die Bürger verstehen wollen, wie ihr Staat organisiert ist. So kompliziert wie heute müsste die deutsche Sozialwelt nicht sein. Der Wirrwarr ist kein Sachzwang, sondern eine historische Erblast. Im Sozialrecht leben wir noch im Ständestaat des 19. Jahrhunderts. Ob für Angestellte, Beamte, Selbstständige, Bauern oder Künstler: Für sie sorgen stets Sonderkassen mit Sonderregeln. Das macht den Erwin-Susanne-Fall ja erst möglich.

Sollte es den etablierten Parteien nicht gelingen, die gefühlten Ungerechtigkeiten auszudrücken und den Sozialstaat übersichtlicher zu machen – dann werden sie irgendwann entmachtet. Längst bilden die Nichtwähler die größte Gruppe. Meist sind sie phlegmatisch, doch kann ihre Unzufriedenheit abrupt ins antidemokratische Ressentiment umschlagen, wie die Überraschungserfolge der DVU in Sachsen-Anhalt oder der Schill-Partei in Hamburg zeigen.

Luther-Enkel Schröder sollte also recht rasch von seinem Reformator-Opa lernen und sich Botschaften überlegen, die mehr als nur „Optimismus“ verkünden. Denn wer nichts zu sagen hat, könnte tatsächlich bald nichts mehr zu sagen haben.

ULRIKE HERRMANN