Pinkeln wird zur Weiterbildung

Toilettenpause, Feiertagsregelung, Lohnkürzung – für fast alles konnte bei den Verhandlungen in Stuttgart eine Lösung gefunden werden

VON KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT

Die Bosse bei Daimler haben gewonnen: 500 Millionen Euro werden per annum im Stammwerk des Automobilgiganten in Sindelfingen eingespart. Und das, so der Vorstandsvorsitzende Jürgen E. Schrempp, ermögliche dort ein „profitables Wachstum“.

Doch auch die abhängig Beschäftigten bei Daimler haben gewonnen; wenn auch nicht ganz so umfassend wie die Konzernleitung. „Schmerzhaft“ seien die „Einschnitte“ für die Automobilwerker schon, sagte der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Erich Klemm. Vor allem die Verschiebung der Angleichung der Bezüge von Arbeitern und Angestellten auf einen „späteren Zeitpunkt“. Dafür aber habe der Vorstand eine „Beschäftigungsgarantie“ für alle Arbeiter und Angestellten für sieben Jahre zugesagt. Auch die Schichtzulagen bleiben erhalten. Das sei „bundesweit einmalig“.

Insgesamt 17 Stunden lang war in Stuttgart verhandelt worden, In der Nacht zum Freitag kam dann die Einigung. „Wir haben nach harten und konstruktiven Verhandlungen eine gute Lösung für Daimler und für den Standort Deutschland gefunden“, sagte Schrempp. Die Vereinbarung habe „Modellcharakter“.

Tatsächlich wird auch bei Opel und VW eine Lösung für Einsparungen und Beschäftigungsgarantien gesucht. Da könnte der Abschluss bei Daimler wegweisend sein. Bei Opel wollen die Betriebsräte die Fortschreibung der 2005 auslaufenden Beschäftigungsgarantie von fünf Jahren auch für die nächsten fünf Jahre erreichen. Der Vorstand sperrt sich (noch). Die Absatzentwicklung in der Branche sei aktuell nicht zu kalkulieren, hieß es aus der Vorstandsetage. Im Klartext: Die Bosse bei Opel (GM) wollen sich die Option betriebsbedingter Kündigungen nicht nehmen lassen. In Rüsselsheim wollte man das Verhandlungsergebnis bei Daimler gestern denn auch nicht kommentieren. Bei VW kann sich das Management dagegen vorstellen, das in Wolfsburg angestrebte Einsparvolumen von 30 Prozent mit einer Beschäftigungsgarantie über das Jahr 2010 hinaus zu koppeln.

Orientiert man sich dabei am Abschluss in Stuttgart, müssen die Beschäftigten gleich in mehrere saure Äpfel beißen. So gehört Papi ab 2005 rund fünf Stunden weniger als bisher der Familie, wenn er in der Abteilung Technologie- und Produktentwicklung arbeitet. Die Vierzigstundenwoche wurde in Stuttgart für die dort beschäftigten 20.000 Ingenieure und Konstrukteure wieder zur Regelarbeitszeit; allerdings bei voller Bezahlung. Überstundenzuschläge werden so eingespart. Und alle Beschäftigten, die nicht unmittelbar mit der Produktion von Autos beschäftigt sind, müssen Einbußen beim Lohn hinnehmen. Die Köche in der Werkskantine und die Vorstandsfahrer etwa sollen demnächst „arbeitsmarktorientierten Arbeitszeit- und Vergütungsregelungen für industrienahe Dienstleistungen“ unterworfen werden; und nicht mehr am üppig ausgestalten Tarifvertrag für die Beschäftigten in der Automobilindustrie partizipieren. Dazu kommt, dass es keine Übernahmegarantie für Auszubildende nach Abschluss der Lehre mehr geben soll.

Und was ist mit der „Pinkelpause“, die Arbeitern bisher pro Stunde zustand? Sie waren dem Management ebenso ein Dorn im Auge wie die drei Feiertage mehr, die es in Baden-Württemberg im Vergleich mit dem Standort Bremen gibt. Die Feiertagsregelung im Südwesten konnten die Tarifvertragsparteien natürlich nicht aushebeln. Auch die Pause für die „Fünfminutenterrine“ bleibt; doch gut die Hälfte der Zeit wird demnächst als „Weiterbildungsmaßnahme“ gewertet. Statt wie bislang 72 Stunden werden den Beschäftigten auf ihrem individuellen Arbeitszeitkonto dann nur noch 42 Stunden Weiterbildung im Jahr gutgeschrieben. Die Kernarbeitszeit erhöhe sich damit, so der Vorstand zufrieden. Und sie „nähere“ sich der Kernarbeitszeit im Werk Bremen an.

Die Betriebräte verweisen darauf, dass es „nicht zu fundamentalen Eingriffen in den Flächentarifvertrag gekommen“ sei. Die Spät- und Nachtzuschläge blieben schließlich in vollem Umfang erhalten. Vorstandschef Schrempp verkündete gestern, dass auch die Mitglieder der Konzernleitung ihr Scherflein zum „Sparpaket“ beitragen würden. Der Hobbytrompeter verzichtet auf 10 Prozent seiner Bezüge; ebenso wie seine Kollegen. Und auch die 300 leitenden Angestellten im Konzern seien aufgefordert, sich der „Aktion“ anzuschließen. Allerdings: Die 10 Prozent sollen nur vom Fixum abgezogen werden. Der höhere variable Anteil – wie Aktienpakete zu Vorzugspreisen – bleibt unangetastet. Schon gestern nach der Verkündung der Einigung zog der Aktienkurs an: um 0,6 Prozent auf 36,45 Euro. Und Analysten diverser Banken stuften die Aktien von Daimler umgehend auf „Kaufen“ hoch. Wer jetzt vom – erwarteten – Boom bei Daimler profitieren will, kann noch bis Ende August die Autohäuser von Daimler und Chrysler aufsuchen und etwa den neuen Smart mit vier Sitzen oder den nostalgischen PT Cruiser (Chrysler) testen. Für den anschließend brav ausgefüllten Testbogen zahlt der Konzern 25 Euro pro Testfahrer; summa summarum die prognostizierten Ersparnisse aus der eingedampften „Pinkelpause“ 2005.