Porträtfotografie aus zwei Jahrhunderten im Museum für Kunst und Gewerbe
: Weißbuch der bürgerlichen Gesellschaft

In der Sammlungsgeschichte deutscher Museen nimmt das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe eine besondere Stellung ein: Bereits um die Jahrhundertwende begann man hier, Fotografie als eigenständiges Medium zu sammeln – das Museum besitzt damit eine der ältesten fotografischen Sammlungen Deutschlands. Schwerpunkte sind bis heute die etwa 900 Daguerreotypien und Ambrotypien aus der Frühzeit der Fotografie sowie der Komplex der Kunstfotografie um 1900 – etwa 600 Originalabzüge sowie 1.500 Heliogravuren. Wesentliche Ergänzungen erfuhr die Sammlung seit 1952 durch Fritz Kempe, der auch für die Erweiterung des Spektrums in die Gegenwart sorgte. Die Sammlung bekam mit der Eröffnung des Forum Fotografie im Jahr 1994 einen zusätzlichen Ort für kleine Sonderausstellungen.

Derzeit zeigt das Museum die Ausstellung Porträtfotografie aus zwei Jahrhunderten: Die Schau präsentiert rund 250 Porträtfotos aus der Museumssammlung, darunter frühe Daguerreotypien von Carl Ferdinand Stelzner und Hermann Biow sowie Familienbilder aus 160 Jahren, die an die Entwicklungsgeschichte der Fotografie erinnern. Denn die Bedeutung des Mediums gründete vor allem im Bedürfnis des Bürgertums nach repräsentativer Selbstdarstellung. Das Fotoalbum wurde, wie Sammlungsleiterin Claudia Gabriele Philipp feststellt, „zum Weißbuch der bürgerlichen Gesellschaft“. So stehen vor allem die Familienbilder der Ausstellung im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit.

Ein anderes, besonders populäres Genre des fotografischen Porträts sind Prominentenbilder: Politiker, Künstler, Theater- und Filmstars sind heute vor allem medial präsent – und regen die Schaulust des Betrachters an. Mit Liselotte Strelows Bildnis von Joseph Beuys und seinem Sohn aus dem Jahr 1967 präsentiert die Schau ein besonders schönes Zeitdokument.

Sisters, eine Arbeit von Nicholas Nixon von 1976, zeigt vier Schwestern, und Angelika Platens Porträt des Objektkünstlers Panamarenko trägt utopische Züge: Ganz in Weiß steht der junge Mann mit dem dunklen Haarschopf vor der Kamera, vor ihm ein Modell eines Kunstwerks, das aussieht wie ein Luftschiff. Ganz anders dagegen der alte John Ford mit Augenklappe, abgetragenem Hemd und bösem Blick – gesehen von Richard Avedon. Einige große Fotografien von Irving Penn, etwa Saul Steinberg in Nose Mask, komplettieren diesen Teil der Schau.

Beispiele herausragender Porträtzyklen sind dagegen Rudolf Dührkoops Hamburgische Männer und Frauen am Anfang des 20. Jahrhunderts, August Sanders bis heute so ungemein modern anmutende Menschenfotografien. Dazu kommen Arbeiten von Edward Weston, Helmar Lerskis um 1930 entstandene, dramatisch ausgeleuchtete Porträtfotografien oder Fritz Kempes Hamburger und ihre Gäste.

Abgerundet wird die Präsentation durch einige Porträtstudien und experimentelle Arbeiten, wie etwa Annegret Soltaus Fotovernähungen aus den neunziger Jahren. In die Körperfotografie ihrer Tochter hat Soltau mit Garn Augen und Münder genäht – ein irritierendes, neues Körperbild, das die Sphären des Sexuellen und der Gewalt miteinander verbindet. Ich überstochen zeigt zum Beispiel zwei Selbstporträts der Künstlerin, die über und über mit kleinen Nadeln gespickt sind.

Mehrere Arbeiten von Erwin Blumenfeld und Florence Henri dokumentieren das Interesse der Avantgardefotografie am Spiegelporträt: Immer wieder hat sich Henri eines Spiegels bedient – in der Ausstellung ist ihr berühmtes Bild mit den zwei silbernen Kugeln aus dem Jahr 1928 zu sehen. An die Vergänglichkeit der Fotografie erinnert dagegen Hermann Biows Vater mit seinen sechs Söhnen aus den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts – eine Fotografie, die sich langsam auflöst und verschwindet. Ob der Verfallsprozess zu stoppen sein wird, zeigt die Zukunft. Doch schon jetzt ist das Leben auf dem Foto beinahe erloschen. MARC PESCHKE

Di–So 10–18, Do bis 21 Uhr. Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz; bis 25.1.2004