Neuer Ruf nach Volksabstimmungen

Rot-Grün will das Grundgesetz ändern und Volksentscheide möglich machen. Eine Abstimmung über die EU-Verfassung lehnt der Kanzler jedoch weiterhin ab. CSU-Chef Stoiber hingegen plädiert für ein Votum des Volkes. Das wünscht sich auch die FDP

„Man muss das Volk vor falschen Entscheidungen schützen“

BERLIN dpa/ap/afp/taz ■ Können die Deutschen künftig direkt über politische Fragen abstimmen? Im Herbst will Rot-Grün ein Konzept vorlegen, das Volksentscheide auf Bundesebene ermöglichen soll. Das Papier sei bereits fertig und zwischen den Koalitionspartnern abgestimmt, sagte Wilhelm Schmidt, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, am Wochenende. Nun müsse sich zeigen, ob die Union dem Entwurf zustimme.

Volksentscheide können nur dann eingeführt werden, wenn zwei Drittel der Bundestagsabgeordneten einer Verfassungsänderung zustimmen. Das aber hatten CDU/CSU und Teile der FDP vor zwei Jahren abgelehnt. Nun hat Rot-Grün den damaligen Entwurf überarbeitet. Die Koalition hofft auf eine neue Chance im Zuge der aktuellen Diskussion. Politiker von FDP und Union fordern, das deutsche Volk solle selbst über die EU-Verfassung abstimmen. Der Streit tobt auch innerhalb der politischen Lager.

CDU-Chefin Angela Merkel etwa lehnt Volksabstimmungen grundsätzlich ab. Setzt sie sich durch, bleibt alles wie bisher – Volksentscheide sind derzeit nur auf Landes- und Kommunalebene möglich. Auf ihrer Seite hat Merkel renommierte Skeptiker wie Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Wenn man das Volk direkt entscheiden lasse, bestehe die Gefahr, dass sehr komplexe Themen auf ein simples Ja oder Nein reduziert würden, so Papier. Auch andere Kritiker fürchten, Populisten könnten das Volk zu kurzsichtigen Entscheidungen verführen.

Die FDP hingegen möchte das Grundgesetz nur für den Sonderfall der Abstimmung über die EU-Verfassung ändern. Einen entsprechenden Antrag will die FDP im September in den Bundestag einbringen. Unterstützt wird sie dabei von CSU-Politiker Edmund Stoiber. „Ich bin mir mit Altbundespräsident Roman Herzog völlig einig, dass wir die Menschen bei einer so grundlegenden Entscheidung auch einbeziehen müssen, wenn wir Europa zu einem Europa der Bürger machen wollen“, sagte der bayerische Ministerpräsident am Wochenende.

Erstmals konkretisierte Stoiber, wie ein solches Referendum organisiert sein könnte. Danach müsste die EU-Verfassung zunächst eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat finden und würde dann durch einen Volksentscheid bestätigt. „Wir wollen nicht Volksentscheide generell einführen, sondern eine Regelung für ganz besondere Fälle schaffen“, so Stoiber. In Bayern gibt es dieses Abstimmungsverfahren schon jetzt. „Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht“, so der CSU-Chef.

Der Entwurf der rot-grünen Koalition hingegen sieht vor, Volksentscheide grundsätzlich zu ermöglichen. Die Abstimmung würde dann in drei Schritten erfolgen. Zunächst müssen 400.000 Bürger gemeinsam eine Volksinitiative starten. Reagiert die Politik nicht innerhalb von acht Monaten mit einem Gesetz, kann ein Volksentscheid folgen – wenn mindestens fünf Prozent der Wahlberechtigen dies einfordern. Über die EU-Verfassung aber sollen allein die Parlamentarier abstimmen. Darin sei er sich mit Bundeskanzler Gerhard Schröder einig, bekräftigte Bundesaußenminister Joschka Fischer gestern Abend. Sonst bestehe die Gefahr, dass sich die Abstimmung allzu lange verzögere: „Wir sollten die Verfassung ziemlich schnell ratifizieren und möglichst vorneweggehen.“

Denkbar wäre auch, dass eine Mehrheit der Deutschen die EU-Verfassung ablehnt, weil sie die Bundesregierung für ihre aktuelle Politik abstrafen will. Das Risiko, dass die Verfassung bei einer direkten Abstimmung scheitere, sei zu groß, sagte SPD-Fraktionsvize Michael Müller dem Spiegel: „Manchmal muss man das Volk auch vor falschen Entscheidungen schützen.“

Die Mehrheit der Deutschen sieht das anders. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Infratest sprachen sich sieben von zehn Deutschen für eine Bürgervotum über die EU-Verfassung aus. COS