Einen Traum träumen

Alle Welt kennt sich, jeder bosselt ein bisschen am Paradies und übt sich dabei in Multitasking: Die DVD „Berlin Digital“ zeigt in einer willkürlichen, aber schönen Auswahl neunzehn Porträts von Aktivisten des Berliner Nachtlebens und ihren Institutionen

VON TOBIAS RAPP

Six degrees of separation heißt eine dieser großartigen Theorien aus Amerika, die hoch Spekulatives mit Pragmatisch-Persönlichem verbindet: Jeder Mensch auf der Welt, so diese Theorie, sei in der Lage, über sechs Zwischenstationen an jeden anderen Menschen heranzukommen. Würde man das Versuchsfeld auf das Berliner Nachtleben beschränken, so stellt man fest, wenn man sich die DVD „Berlin Digital“ anschaut, dürfte eine Person reichen, höchstens zwei.

Die Idee von „Berlin Digital“ ist einfach: Eine Porträtsammlung von Aktivisten des Berliner Nachtlebens und ihrer Institutionen möchte die DVD sein, minus der Gesichter und Orte, die ohnehin schon genug Aufmerksamkeit bekommen, ohne DJs und Clubs also. Neunzehn Porträts alles in allem, zwischen fünf und zehn Minuten Länge sind auf der DVD, ergänzt durch eine einigermaßen lückenhafte Auflistung Berliner Plattenläden und eine liebevolle Einführung in die Kunst des Vinylplattenschneidens der Meister von Dubplate & Mastering. Und wenn man sich auf bestimmte Limitierungen einlässt, so ist das auch gelungen. Man sollte sich damit anfreunden, dass das hier präsentierte Berlin aus der Ostcity plus Kreuzberg besteht, dass hier alle mögliche Musik gehört und gemacht wird, aber kein Rock – außerdem kennt dieses Berlin Migranten und Leute ohne Abitur nach wie vor nur aus dem Gemüseladen. Aber es wäre ungerecht, diesen Umstand den „Berlin Digital“-Machern vorzuwerfen: So ist es im Berliner Subkultur-Paradies nun mal.

Und etwas leicht Paradiesisches schimmert durch fast jedes der neunzehn Porträts durch. Wenn Ellen Alien in der Passage über Bpitchcontrol sagt: „Wir haben unsere eigene Insel kreiert, um einigermaßen das Gefühl zu haben, dass es okay ist zu leben. Das ist ein Traum, den wir träumen, der aber auch so sein soll“, so trifft das ein Lebensgefühl, das man bei den Veteranen vom Ocean Club genauso trifft wie bei den Youngsters vom Label Shitkatapult.

Alle Welt bosselt vor sich hin. Wer schon etwas länger dabei ist, hat irgendwann einmal die Möglichkeit gehabt, seine Unabhängigkeit gegen einen hoch dotierten Vertrag einzutauschen, und es nicht gemacht – den Jüngeren sieht man an, dass sie sich ähnlich entscheiden würden. Alle Welt übt sich im Multitasking: Da gibt es den House-DJ Dixon, der noch eine Thekenfußball-Mannschaft organisiert und eine Sandwichbar betreibt. Da gibt es die Dense-Booking-Agentur, die noch mit einem Plattenladen verbandelt sind. Das Sonar Kollektiv ist eine Hybridform aus Label, Agentur, Studio und Kaffeehaus.

Und alle Welt kennt sich: Die porträtierte Macherin des Possible Vertriebs hat lange im Plattenladen Hardwax gearbeitet, der mit der Firma Dubplate & Mastering zusammenhängt, wo auch der gleichfalls porträtierte Robert Henke von Monolake einmal gearbeitet hat, der nun eine ebenfalls porträtierte Musiksoftwareschmiede betreibt. So könnte man alle Porträts miteinander verbandeln.

Nun lädt eine solche Sammlung natürlich dazu ein, das Fehlen von diesem oder jener zu bemängeln, eine Kritik, die aber im Grunde genauso willkürlich ist wie die Auswahl der Berlin Digital-Macher selbst. Mit Tresor und Studio K7 werden die beiden alteingesessenen Berliner Clubmusik-Indies vorgestellt, mit Kanzleramt, Bpitch Control und Shitkatapult die drei erfolgreichsten Berliner Plattenfirmen der letzten Jahre.

Interessanterweise werden mit Native Instruments und Ableton auch zwei Firmen vorgestellt, die Musiksoftware herstellen – äußerst erfolgreich gerade deshalb, weil sie zahlreiche Musikproduzenten schon in einem relativ frühen Stadium in die Entwicklung ihrer Programme einbinden.

„Berlin Digital: A Guide Through The Electronic Music“ 170 Min., erschienen bei Lieblingslied/Alive www.berlin-digital.com