Türkische Migranten wollen vor Hartz flüchten

Jeden dritten Bürger türkischer Herkunft zieht es von der Ruhr in die alte Heimat, besagt eine neue Studie des Essener Zentrums für Türkeistudien. Doch das sei keine realistische Option, meint die Türkische Gemeinde Rhein Ruhr

Essen taz ■ Die Zahl der türkische MigrantInnen, die in ihre alte Heimat zurückkehren wollen, hat sich in den vergangenen Jahren beinahe vervierfacht: Während 2001 nur acht Prozent Deutschland den Rücken zukehren wollten, spielen heute 30 Prozent mit diesem Gedanken. Das stellt das Essener Zentrum für Türkeistudien in seiner neuesten Studie fest. 1.000 Menschen türkischer Herkunft wurden für die Auswertung befragt.

„Es geht den Türken in Deutschland wirtschaftlich immer schlechter“, sagt Faruk Sen, Leiter des Zentrums. Deutschlandweit seien 24 Prozent der türkischen MigrantInnen arbeitslos, im Ruhrgebiet seien es sogar 30 Prozent. „345 Euro im Monat können die Auswanderer auch in der Türkei verdienen“, antwortet Sen auf die Frage, ob man für einen Existenzaufbau in der Türkei nicht auch Geld brauche und spielt damit auf die Einführung des Arbeitslosengelds II an. Man könne zwar keine sichere Prognose abgeben, weil die Umfrage nur die Rückkehrwünsche evaluiert habe. Er halte es aber für sehr realistisch, dass viele Türken ihr Vorhaben in die Tat umsetzten. „Die Wirtschaft in der Türkei entwickelt sich besser als in Deutschland“, so Sen.

Mustafa Okur, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Rhein Ruhr, glaubt nicht an die Ergebnisse der Studie: „Es geht hier keiner weg“, sagt er. Die Türken hegten zwar über Jahrzehnte hinweg die Möglichkeit der Rückkehr, doch die meisten seien hier längst verwurzelt, ihre Kinder hier aufgewachsen. „Ich habe hier tausend Freunde“, sagt er von sich selbst. In der Türkei sei es ein paar Wochen lang ganz schön, aber dann ziehe es ihn wieder an die Ruhr. Er könne sich höchstens vorstellen, dass Rentner vermehrt zwischen den Ländern hin- und herpendeln. Doch wer hier arbeitslos ist, wird auch in der Türkei keinen Fuß fassen, Okur ist sich da sicher.

Eine städtische Angestellte in Duisburg, die ihren Namen nicht nennen will, geht mit der Essener Studie noch härter ins Gericht: „Ich halte nichts von diesen Studien“, sagt die in Deutschland aufgewachsene Migrantin. Dass jeder dritte Türke in die alte Heimat zurückkehren wolle, sei „völlig unrealistisch“. Auch die Politik habe in den 1980er Jahren vergeblich versucht, die Migranten durch Rückkehrprämien zum Auswandern zu bringen.

Dass es sich bei den gestiegenen Rückkehrabsichten eher um eine Wunschvorstellung als um realistische Vorhaben handele, glaubt auch Ralf Zimmer-Hegmann vom Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung NRW (ILS). Als Leiter des Fachbereichs Stadtentwicklung und Gesellschaft kann er nur eine Binnenmigration bei Einwanderern feststellen: „Nach Duisburg-Marxloh oder in die Dortmunder Nordstadt ziehen vermehrt ärmere MigrantInnen.“ Dafür versuchten sich Angehörige der türkischen Mittelschicht in bessere Viertel zu retten. „Sie haben Angst um die Bildungschancen ihrer Kinder“. sagt Zimmer-Hegmann. Das sei aber keine ethnische Entwicklung, sondern ein allgemeines soziales Phänomen. Was das Thema Auswanderung angeht, fände er es interessant mal zu erforschen, „wie viele Deutsche angesichts der wirtschaftlichen Flaute mit dem Gedanken spielen, Deutschland zu verlassen.“

NATALIE WIESMANN