Der Prenzlauer Berg spricht

Eine CD präsentiert den subjektiven Blick von 16 Autoren auf Prenzlauer Berg. Die Collagen laden zum akustischen Spaziergang: vom Steinwurf am Kollwitzplatz zur Chilischokolade an der Dunckerstraße

Dass der Organist das f nicht vom fis unterscheiden kann, berichtet die Kirche

VON KATHARINA TEUTSCH

Gelegentlich berichten Menschen von Götterboten oder davon, wie sie – aus brennenden Büschen heraus – mit Gott Konversation hielten. Nun ist es an dieser Stelle nicht Gott, der spricht, sondern die Segenskirche in Prenzlauer Berg. Ihre Stimme erinnert an die Uralte Morla aus der „Unendlichen Geschichte“, ihr Temperament aber ist das einer alternden Diva. Sie „hat’s im Kreuz“. Und um nun endlich etwas Licht ins Dunkel zu bringen: Es geht um ein literarisches Stadtprojekt, um kokettierende Kirchen und um die nebulöse Idee vom „Sound-Seeing“.

An dem Projekt arbeitete der Berliner Kunstverein „Lichtschliff. Bilder & Töne – berlin“ drei Jahre lang. Dank ihrer Förderer, den Quartiersmanagements des Bezirks, konnte es in diesem Sommer realisiert werden.

Insgesamt 16 Berliner Autoren produzierten in den vergangenen Monaten Hörbeiträge zu ausgewählten Orten im Prenzlauer Berg. Darunter die Synagoge in der Rykestraße, der Mauerpark und die Segenskirche in der Schönhauser Allee. Ein Audiokit versammelt jetzt alle Beiträge zu einem literarischen Stadtspaziergang.

Der subjektive Blick war bei der Erstellung der Beiträge oberste Maßgabe. Statt trockener Quartiershistorie sollten Stadtansichten entstehen. Dabei legten Markus Heidmeier und Steffen Ramlow, die Macher von Sound-Seeing, Wert darauf, Autoren aus Ost- und Westberlin für das Projekt zu gewinnen. Vom O-Ton-Feature (über die Ausschreitungen am 1. Mai rund um den Kollwitzplatz Mitte der 90er-Jahre) bis hin zur Rockoper (über den 7. Oktober 1989 in der Gethsemanekirche) sind so ziemlich alle Genres der Vertonungskunst vertreten. Kein Beitrag ähnelt dem nächsten. Man muss sich einlassen auf die Poesie der Orte, auf ihre Geschichten und Metageschichten.

Eine erzählt nun die Segenskirche, genauer gesagt: Die Autoren Benjamin Rinnert und Lojang Soenario lassen die Kirche erzählen. Die war das höchste Bauwerk der Stadt, bis eines Tages ein lächerlicher Fabrikschlot vor ihr in die Höhe schoss – der Fernsehturm. Inzwischen aber seien diese Eifersüchteleien begraben, versichert die Kirche altersmild. Dass der derzeitige Organist gelegentlich das f nicht vom fis unterscheiden kann und das Spiel in Strümpfen liebt, berichtet sie gewissermaßen en passant, bevor es zum nächsten Beitrag geht – über den jüdischen Friedhof ein paar Häuserzeilen weiter.

Darin inspiriert Ulrike Draesner zu einem poetischen Rundgang. „Üben sie sehen hier“, fordert die Stimme – oder hören, denn dies ist ein „stumm zu uns sprechendes Feld“. Es handelt sich um die älteste jüdische Grabstätte der Stadt. Auf den Grabsteinen vermischen sich hebräische mit lateinischen Lettern. „Eingebunden in das Bündel des Lebens“, heißt es da: Deutsch in hebräischen Lettern. Seit 1812 waren Juden in Preußen Staatsbürger. Berlin selbst hatte die größte jüdische Gemeinde in Deutschland und der Prenzlauer Berg war eines der wichtigsten Zentren jüdischer Kultur. Draesner geht zwischen die Grabmale, hält inne und versenkt sich in den Irrgarten der Geschichte.

In Tanja Dückers Kurzgeschichte über das Schokoladengeschäft in der Dunckerstraße geht es heiterer zu. Hier lernt man Erstaunliches über Schokolade aus Stutenmilch. Und wollten wir uns nicht schon immer einmal der süßen Zungenirritation von Chilischokolade hingeben? In der Geschmackskunst scheint es keine unmöglichen Kombinationen zu geben.

So ist das wohl auch mit Berlin selbst, denn wo Geschichte auf Geschichte trifft, entstehen von Brüchen durchzogene Orte. So ein Ort ist der Mauerpark. Schussstreifen und Erholungszone. Der Park ist ein typisches Synergieprodukt der Nachwendezeit, eine „Blick- und Bewegungsachse“ zwischen Ost und West, an die Steffen Ramlows rückblickender Text erinnert.

Solch literarische Stadtansicht öffnet die Augen für die verborgenen Geschichten eines Viertels. Das Ergebnis ist eine ungewöhnlich inspirierende Zeitreise durch die Berliner Geschichte