Groß geworden mit Rio

Im nordfriesischen Fresenhagen, der ehemaligen Residenz von „Ton Steine Scherben“, trafen sich am Wochenende Freunde und Angehörige der Pop-Ikone Rio Reiser – zur besinnlichen Open-Air-Reminiszenz mit Rio-Reiser-Songpreis

Umgeben von einem kleinen Lattenzaun liegt Reiser hinter dem Haus beerdigt

Käme jemand zufällig den kleinen asphaltierten Feldweg entlang, er könnte das Ganze im ersten Moment für eine etwas größer geratene Party halten – veranstaltet vielleicht vom benachbarten Golfclub. Im Hintergrund ein lang gestrecktes Friesenhaus, die niedrigen Mauern sind weiß getüncht, ein riesiges Reetdach scheint das Haus fast in den Marschboden zu drücken. Davor, auf einer großen Wiese, stehen und sitzen die Gäste, Kinder laufen spielend um die Tische und Bänke, Kaffee und Kuchen werden verzehrt. Am Rand ein Infowagen, eine Bier- und eine Frittenbude. Und etwas größer als eine Garage, steht da eine Bühne, für die sich aber gerade niemand interessiert: Es ist Sonnabend, später Nachmittag, und zwischen den treibenden Wolken blitzt immer mal wieder die Sonne durch. Nicht wirklich zu glauben, dass hier ein Open-Air-Festival und die Preisverleihung eines Songwettbewerbs stattfindet. Wirkt eher wie ein etwas zu groß geratenes Familienfest.

Ist es irgendwie auch: Fresenhagen, irgendwo zwischen Flensburg und Niebüll, August 2003. Die ehemalige Heimstätte der vielleicht legendärsten deutschen Rock-Band: Ton Steine Scherben. Und der Ort, an dem einer der bedeutendsten Sänger und Songschreiber der Republik beerdigt ist: Rio Reiser. Umgeben von einem kleinen weißen Lattenzaun liegt der „König von Deutschland“, der Sänger von „Junimond“ gleich hinter dem Haus im Garten beerdigt. Sieben Jahre ist es her, dass Rio Reiser 47-jährig starb.

Eigentlich alle, die sich vom vergangenen Freitag bis Sonntag zum „Fresenhagen Open Air“ eingefunden haben, sind wegen Rio hier. Viele kennen sich seit Jahrzehnten, sind mit Ton Steine Scherben groß geworden, waren auch schon Anfang der 70er Jahre dabei, als Rio und die Scherben am Berliner Tempelhofer Ufer als Kommune lebten. „Keine Macht für Niemand“ oder „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ hießen die Songs, als man am Mariannenplatz das leer stehende Bethanien-Krankenhaus besetzte und zum Georg-von-Rauch-Haus machte. Als die „Bewegung 2. Juni“ entstand, und nach (fast) jedem Konzert von Ton Steine Scherben Häuser besetzt wurden. Und schon 1975, als die Scherben den Umzug nach Fresenhagen vollzogen, war die Band Legende.

Die meisten der BesucherInnen haben die Band hier kennen gelernt: Als die Scherben-Familie den alten, fast zerfallenen Hof gekauft und leidlich wohnbar gemacht hatte. Als immer wieder Einheiten von Verfassungsschutz und Bundesgrenzschutz den Hof umstellten, auf der Suche nach Drogen und Terroristen. Hier entstand das dritte Scherben-Album Wenn die Nacht am tiefsten, vollzog sich der Wandel von den klassenkämpferischen Parolen-Songs zu den eher lyrischen Liedern, die das persönliche Lieben und Leiden in den Vordergrund stellen: „Halt dich an deiner Liebe fest“ oder „Land in Sicht“. Songs, in die Ralf Möbius alias Rio Reiser all seine Zerrissenheit und Kraft legte.

Von dem Rebellischen und der Zerrissenheit damaliger Tage ist heute nicht mehr viel zu spüren in Fresenhagen. Alles ist entspannt und friedlich, geradezu Urlaubsstimmung in Friesland. Die Bundeszentrale für politische Bildung und – ausgerechnet – der Verein für deutsche Sprache sind dieses Jahr die Sponsoren des Rio-Reiser-Songpreises, der nun schon zum dritten Mal auf dem Festival vergeben wurde. SPN-X, der Songwriter Werner Bettge und Juli heißen die drei Sieger, die sich das Preisgeld in Höhe von 7.500 Euro teilen. Über 600 Songs waren an den Rio-Reiser-Verein eingeschickt worden – darunter auch gnadenlos viel Schrott, so heißt es. Mitglieder des Vereins siebten 16 Songs aus, von denen schließlich unter anderem Reinhard May, Marianne Rosenberg, der vor kurzem verstorbene Scherben-Weggefährte Jako Benz und deren Schlagzeuger Funky Götzner die Gewinner zu wählen hatten.

Aber eigentlich ist das nebensächlich, wenn eine selbst gewählte Familie aus neuen und alten Freunden zusammenkommt, sich trifft, Geschichten erzählt und ganz sicher weiß: Nächstes Jahr wieder, im August 2004, zum Rio-Reiser-Festvial nach Fresenhagen. DIRK SEIFERT