Veränderte Verhältnisse

Andrea Breth und Michael Thalheimer haben sich bei den Salzburger Festspielen die Klassiker der deutschen Literatur vorgeknöpft. Breth heimste unangefochten den großen Erfolg ein, Thalheimer wurde ausgebuht und laut bejubelt

von ANTON THUSWALDNER

Die Salzburger Festspiele sind nicht nur ins Gespräch, sondern auch ins Gerede gekommen. Theater wird diskutiert, als stände das Schicksal des Abendlands auf dem Spiel. Was steht einem Regisseur eigentlich zu, wie weit darf er in einen Text eingreifen und wie hält er es mit der Werktreue? Das sind Fragen, die wieder einmal unter den Nägeln brennen, und der Krieg der Worte zwischen Fundamentalisten und Verteidigern des Experiments kennt keine Sieger. Einmal im Jahr ist Salzburg der Ort, an dem die zeitgenössischen Möglichkeiten des Theaters eine Chance bekommen. Was sich hier abspielt, hat Folgen für das Theater im deutschen Raum. Wird das Klima konservativer oder stoßen Versuche, das Unerhörte zu artikulieren, auf Neugier und Zustimmung – die Salzburger Festspiele, eine Art Leistungsschau zeitgenössischen Sprech- und Musiktheaters und gegenwärtiger Musikkultur, sind ein Seismograph sich verändernder Verhältnisse.

Andrea Breth und Michael Thalheimer besetzen die Grenzposten des Regiewesens. Beide haben sich Klassiker der deutschen Literatur vorgenommen, und beide wählen sich ihren eigenen Zugang zum Text. Breth heimste unangefochten den großen Erfolg ein, Thalheimer wurde ausgebuht und laut bejubelt. Während der Aufführungen kam es zu Tumulten, ein Teil des Publikums fühlte sich betrogen, ein anderer war begeistert. Auf der Bühne liefen die Gefühle Amok, im Saal wurde darum gekämpft, welche Form des Theaters man geliefert haben wolle.

Andrea Breth inszenierte Arthur Schnitzlers Tragikomödie „Das weite Land“ und betrieb dabei intensives Seelenstudium. Sie lieferte eine schockgefrorene Version des Gesellschaftsstückes ab. Sie machte Schnitzler härter, beraubte ihn seiner vordergründig charmanten Liebenswürdigkeit, hinter der sich die Schrecken der Einsamkeit und Durchtriebenheit der Charaktere verstecken. Sie ging direkt auf das Ziel zu, Menschen bei ihrem Werk zuzusehen, einander zu betrügen und zu hofieren. Lauter sympathische Zeitgenossen stellte sie auf die Bühne, die sich ein Stückchen Lebensglück auf Kosten von anderen ermogeln, lauter kaputte Gestalten, die die Etikette wahren, um der Illusion zu glauben, alles gehe seinen rechten Gang. Mit Andrea Breth gelangte man in den Glaspalast der Gefühle. Mit Sven-Eric Bechtolf und Corinna Kirchhoff standen Breth Darsteller zur Verfügung, die dieses beklemmende Drama der verkorksten Leidenschaften vor verschiebbaren Plexiglaswänden (Bühne: Erich Wonder) fürchterlich und anmutig zum Vorschein brachten.

Andrea Breth blieb eng an der Textvorlage von Arthur Schnitzler, sie erlaubte sich keine Abweichungen. Hat nun aber Michael Thalheimer Verrat am „Woyzeck“ begangen und obendrein Georg Büchner meuchlings ermordet? Keineswegs! Selten ist eine Inszenierung zu sehen, die sich derart eng an die Textvorlage hält wie diese. Sie entspricht der „kombinierten Werkfassung“, wie sie in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags von 1992 nachzulesen ist. Natürlich liegen bei Büchner am Ende nicht lauter Tote blutüberströmt am Boden, die alle auf das Konto von Woyzeck gehen, aber Thalheimers Deutung ist gut zu vertreten. Die Sprache ist rau und ungeschlacht, von allem Anfang an erweist sich Woyzeck als ein von irrationalen Ängsten Getriebener, er fürchtet die Menschen, den Himmel und die Unterwelt, er sieht Gespenster, wo andere nichts sehen: „den Streif da über das Gras hin, da rollt Abends der Kopf, es hob ihn einmal einer auf, er meint es wär ein Igel.“ Aus der Wahnwelt des Woyzeck wächst eine Katastrophe, in die alle hineingezogen werden, die mit ihm zu tun haben. Breth betreibt auf der Bühne feinsinnig angewandte Psychologie, Thalheimer geht brachial zu Werke, zeigt einen Psychopathen im Fieber.

Johann Kresnick nimmt sich des Peer-Gynt-Stoffes an und entfaltet daraus ein gewaltiges Spektakel, ein Theater der großen Effekte und mächtigen Botschaften. Aus dem Boden ragen die riesigen Köpfe starker Männer vom Zuschnitt Lenins oder Kennedys, doch meist sind sie unter einem grünen Überwurf verhüllt, sodass die daraus entstehende Landschaft eine prächtig zerklüftete Naturkulisse abgibt. Auch diesmal ist Kresnick wieder zur Stelle, die Zuseher politisch aufzurüsten. Das wirkt wie Theater aus einer anderen Zeit, von Edelmut angetrieben, kraftstrotzend die Muskeln zeigend und dabei hemmungslos monomanisch die Visionen eines Regisseurs auslebend.

Bisweilen ging es in Salzburg recht besinnlich zu. Christa Wolf war eingeladen, als Dichterin zu Gast drei Abende nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Sie las aus ihrem zuletzt erschienenen Roman „Leibhaftig“, erinnerte an vier verfrüht verstorbene Dichterinnen aus der DDR – Inge Müller, Irmtraud Morgner, Maxie Wander und Brigitte Reimann – und lenkte die Konzentration ganz auf das Wort. Doch als sie ihr „Medea“-Projekt vorstellte, ließ sie sich unterstützen von Musikern und dem Maler Helge Leiberg, dem man zusehen konnte, wie er spontan für die Sprache Bilder fand. Der Aufwand tat dem Text gut, lüftete er doch die vor Düsternis und Rechtschaffenheit starre Atmosphäre gründlich durch.

Am Rande der Festspiele findet die Reihe „Young Directors Project“ statt, ein Forum für die innovative junge europäische Theatergeneration, von der erwartet wird, dass sie sich in Zukunft die alten Texte vornimmt und gegen den Strich bürstet. Dann wird man wieder Grund zur Empörung finden.