No socks, no cigarettes

Grenzverkehr der Befindlichkeiten: „Plotki“ und „Freier“, zwei erfrischend eigenwillige Berliner Magazine, verzichten konsequent auf die Formate des Mainstream-Zeitschriftenmarkts. Studenten powern und Wolfgang Tillmans steuert Bilder bei

VON JAN KEDVES

Rodica hat es morgens nicht weit zur Arbeit. Sie geht einfach vor die Tür, nimmt Platz auf der Bank vor ihrem Haus und fängt an, Wollsocken zu stricken. Ein Paar nach dem anderen. Vor den Nachbarhäusern in der steinigen, ungeteerten Straße sitzen ebenfalls Frauen. Auch sie stricken Wollsocken. Für Abnehmer aus Deutschland. Eine Szene, wie man sie in Viscri, der „Sockenstadt in Transsilvanien“, jeden Tag beobachten kann – festgehalten im Berliner Magazin Plotki, das sich mit den Gemeinsamkeiten, aber auch den Missverständnissen zwischen dem beschäftigt, was man gemeinhin gern als Ost- und Westeuropa gegenüberstellt.

„Plotki“ ist polnisch und bedeutet „Gerüchte“. „Rumours from around the bloc“ lautet passend dazu die Unterzeile des von Studenten aus Berlin und Warschau gemeinsam erstellten englischsprachigen Hefts. Englisch ist im Plotki-Universum die einzig praktikable Sprache, stammen die meist erfrischend persönlich gefärbten Beiträge doch auch von Kontributoren aus Moskau, Zagreb, Budapest und Paris. Und so darf die Rumänin Rodica aus Viscri in der jüngsten Plotki-Ausgabe, die den Schwerpunkt auf Siebenbürgen und das dortige Leben zwischen „hübsch dekorierter Armut“ und alteingesessenem Patriarchat legt, dann die Fäuste in die Hüften stemmen und ihren arbeitslosen Mann, der sich weigert, ebenfalls Socken zu stricken, anherrschen: „No socks, no cigarettes!“

Ein anderes Magazin aus Berlin setzt sich derzeit ebenfalls erfrischend subjektiv mit dem Themenkomplex „Ost-West“ auseinander, wenn auch mit völlig anderem Ansatz: Freier heißt das Heft, das sich im sympathischen Schwarz-Weiß-Kopie-Look präsentiert und vom Arbeitskreis Neue Dokumente herausgegeben wird, einer Gruppe um das Berliner Künstlerkollektiv Honey-Suckle Company.

Was Freier und Plotki verbindet, ist ihr konsequenter Verzicht auf die Standards und Formatierungen des Mainstream-Zeitschriftenmarkts. Mögen die überstürzt gelaunchten Mode-, Lifestyle- und Gesellschaftsmagazine mit ihren langweiligen Fotostrecken und immer gleichen Texten über Anzeigenschwund klagen – Freier und Plotki akquirieren erst gar keine Anzeigen, sie setzen auf Do-it-yourself-Ästhetik statt auf Hochglanz. Die Seiten werden nicht teuer zusammengeklebt oder gebunden, sondern einfach: getackert. Das Ganze irgendwo zwischen DIN A4 und DIN A5, einem ungewöhnlichen Format also, das zwar handlich ist, im Tankstellen- oder Toto-Lotto-Zeitschriftenregal allerdings kläglich versinken würde.

Um sich thematisch möglichst wenig festzulegen, trägt Freier gleich zwei Untertitel auf dem Cover: „Magazin für Befindlichkeit“ und „Sammelband zur Zeit“. So wundert es nicht, dass sich die aktuelle, dritte Ausgabe des Hefts zum Thema „Ost-West“ als überaus abwechslungsreicher Mix aus Politik, Absurditäten, Ost-Chic und investigativem Journalismus entpuppt. Was man als „Ost“ und „West“ versteht, kommt letztendlich ohnehin nur auf den Standpunkt und den Maßstab an.

Freier „Ost-West“ präsentiert einen trashigen Fotoroman von Stereo Total, „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, der Erinnerungen an die Zeit weckt, in der Westberlin noch der wilde Osten Westdeutschlands war. Daneben steht ein plaudriges Gespräch zwischen fünf jungen Ostberlinerinnen, die zum Zeitpunkt der Wende alle um die fünf Jahre alt waren: „Det Einzige, wat sich verändert hat, war, dass die Kaufhalle nich mehr Kaufhalle hieß, sondern Extra!“ Wolfgang Tillmans steuert Bilder aus London bei, die dokumentieren, wie kommerzielle Werbeflächen dort durch Guerillaplakatierungen verschiedener politischer Interessengruppen zu regelrechten Kriegsschauplätzen werden: „Socialist Workers against George Bush“, „Muslims against Western Values“.

Zum mehrdeutigen Titel Freier passt das mit Herzblut geschriebene, großzügig bebilderte Porträt der Ungarin Ilona Staller, besser bekannt als Porno-Actrice Cicciolina, Exfrau von Jeff Koons und ehemalige Politikerin im italienischen Parlament. Auch eine Ost-West-Geschichte. Freier besuchte die „Diva Futura“ in ihrem Haus in Rom, stellte fest, dass sie immer noch gerne vor Airbrush-Fantasy-Kulissen posiert, und bekam auf die Frage, ob sie sich in ihren Filmen nie zum Objekt degradiert gefühlt habe, ins Mikro diktiert: „Assolutamente no! Die Frau ist das Subjekt. Das Objekt hält sie in ihren Händen.“

Während die hauptsächlich aus Frauen bestehende Neue-Dokumente-Belegschaft an der für Oktober geplanten vierten Freier-Ausgabe arbeitet, diesmal unter einer neuen inhaltlichen Klammer – Kunst, Musik, Mode, Politik –, begibt sich die Berliner Plotki-Redaktion Anfang August gemeinsam mit ihren osteuropäischen Ko-Plotkisten auf zweiwöchige Recherche-Reise ins Dreiländereck Polen-Slowakei-Ukraine. Mit diesen Themenschwerpunkten sollten beide Redaktionen keine allzu großen Probleme haben, auf genügend neue Gerüchte und Befindlichkeiten zu stoßen.

So braucht es nachher nur wieder das Papier in diesem etwas ungewöhnlichen Format. Und die praktischen Metallstiftchen, die das zusammenfügen, was so sonst nicht zusammengehört. Tack, tack.