Bloß kein Neid auf die Schweiz

aus Zürich TONI KEPPELER

Die Lohnabrechnung eines Schweizer Arbeitnehmers kann deutsche Kollegen vor Neid erblassen lassen: 5 Prozent Abzug für die staatliche Rentenversicherung, 1,25 Prozent für die Arbeitslosenversicherung, 8,4 Prozent für die Pensionskasse – fertig. Aus 5.000 Franken brutto (rund 3.250 Euro) werden 4.267,50 Franken netto (rund 2.770 Euro). 14,65 Prozent Abzüge. Wer soll da nicht neidisch werden?

Trotzdem geht es Schweizer Arbeitern nicht besser als den deutschen: Sie arbeiten länger (42 Stunden in der Woche), haben mindestens eine Woche weniger Urlaub, die Lebenshaltungskosten sind deutlich höher. Und: Im Vergleich zu einem deutschen Lohnzettel ist der schweizerische unvollständig: Lohn- oder Einkommensteuer wird nicht direkt eingezogen, sondern immer Anfang des Jahres für das vorhergehende Jahr auf einmal bezahlt. Die Krankenversicherung taucht nicht auf, weil sich der Arbeitgeber nicht beteiligt. Auch die so genannte dritte Säule der Altersvorsorge, eine freiwillige private Rentenversicherung neben der staatlichen Rentenversicherung und der betrieblichen Pensionskasse, wird nicht auf dem Lohnzettel erwähnt, denn auch sie geht voll zu Lasten des Arbeitnehmers. Grund zum Neid auf die Schweizer haben deshalb nicht die deutschen Arbeitnehmer, sondern die Arbeitgeber: Schweizer Unternehmer bezahlen nur knapp 15 Prozent Lohnnebenkosten. So lässt sich trotz hoher Löhne noch konkurrenzfähig produzieren.

Das schöne Nettogehalt des Arbeiters aber verflüchtigt sich. Gehen wir weiter von den 5.000 Franken eines Arbeiters aus und nehmen an, er wohne in Zürich und seine Frau arbeite nicht, sondern ziehe die beiden Kinder auf. Von den ca. 4.265 Franken, die monatlich auf sein Konto überwiesen werden, muss er als niedrig besteuerter Alleinverdienener 360 Franken zur Seite legen. Dazu werden ihm rund 1.000 Franken für die Krankenversicherung abgebucht. 230 Franken pro Monat sollte er für die Eigenbeteiligung an den Gesundheitskosten zur Seite legen. Denn die beläuft sich für zwei Erwachsene und zwei Kinder auf bis zu 2.720 Franken im Jahr. Aus 4.265 Franken netto werden real 2.675 Franken (rund 1.740 Euro). Für die freiwillige private Altervorsorge bleibt da nichts übrig. Denn selbst wenn dieser Beispielarbeiter in einer Randlage unter beengten Verhältnissen wohnt: Die Miete frisst mindestens die Hälfte seines realen Nettoeinkommens. Wehe, es fällt ein Kind von Fahrrad, schlägt sich drei Zähne ein und braucht eine teure Behandlung. Das gibt der Familienetat nicht her. Denn Zähne sind in der obligatorischen Grundversicherung nicht eingeschlossen.

Ist die Schweiz wirklich ein Modell für die Sanierung der deutschen Kranken- und Rentenkassen, wie in der deutschen Debatte gern behauptet? Im Ganzen gesehen sicher nicht. Trotzdem lohnt eine Betrachtung der einzelnen Bestandteile des Schweizer Systems.

Drei Säulen fürs Alter

Die Altervorsorge ruht auf drei Säulen: der staatlichen Rentenversicherung, den betrieblichen Pensionskassen und der privaten Vorsorge. Die Beiträge für die ersten beiden Säulen tragen Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte. Sie sind obligatorisch. Die dritte Säule geht zu Lasten der Arbeitnehmer. Sie ist zwar freiwillig, wird aber staatlich gefördert: Die Beiträge können von der Steuer abgesetzt werden. Will ein Schweizer sicher sein, dass er den in seinem Arbeitsleben erreichten Lebensstandard als Rentner halten kann, braucht er die dritte Säule.

Die staatliche Rentenversicherung ist eine echte „Bürgerversicherung“. Arbeiter und Angestellte bezahlen genauso wie Beamte und Selbstständige: 10 Prozent des Einkommens, hälftig aufgeteilt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Eine Höchstgrenze wie in Deutschland gibt es nicht. Ein Konzernmanager mit einem Jahreseinkommen von 1 Million Franken bezahlt im Jahr 50.000 Franken, sein Arbeitgeber noch einmal dasselbe. Dafür bekommt er später einmal die Höchstrente von 2.110 Franken im Monat. Denn die staaliche AHV (Alters- und Hinterlassenenversicherung) ist nicht mehr als die minimale Grundsicherung. Die ausbezahlten Renten bewegen sich zwischen 1.000 und 2.110 Franken. Davon kann kaum ein Schweizer leben.

Zum Leben ist die zweite Säule da: die betrieblichen Pensionskassen. In ihrem Fonds wird für jeden Versicherten ein eigenes Konto geführt. Was er und sein Arbeitgeber einbezahlen, bekommt er später – plus des erwirtschafteten Gewinns – als Rente ausbezahlt. Wechselt er den Arbeitgeber, wird sein angesammeltes Guthaben von einer betrieblichen Pensionskasse an die andere überwiesen. Zieht er ins Ausland, kann er das angehäufte Kapital mitnehmen. Rund 600 Milliarden Franken haben die Schweizer in solchen Pensionskassen liegen. 50 Prozent davon sind in Anleihen angelegt, 30 Prozent in Aktien, 10 Prozent in Immobilien, und 10 Prozent liegen als Bargeld herum.

Das ist zwar eine eher vorsichtige Anlagestrategie. Doch Börsencrashs gehen an den Pensionskassen nicht spurlos vorüber. Seit Anfang 2000 sind rund 60 Milliarden Franken oder 10 Prozent des Versichertenkapitals an der Börse einfach verdampft. In der Folge wurden 70 Prozent der Pensionskassen zu Sanierungsfällen: Sie haben mehr Verpflichtungen als Vermögen. Und die Verpflichtungen werden weiterwachsen, weil auch die Schweizer immer älter werden. Bevölkerungsstatistiker haben errechnet, dass 50 Prozent der Frauen, die 1950 geboren wurden, 90 Jahre oder älter werden. Bei den Männern desselben Jahrgangs sind es immerhin 30 Prozent. Die Pensionskassen müssen sich also auf lange Rentenzahlungen einstellen.

Die Sanierungskonzepte sind nicht eben originell: Die Mindestrendite der Guthaben in den Pensionskassen wird von 2004 an von 3 auf 2 Prozent herabgesetzt. Eine Rentenanpassung soll dann nicht mehr jedes Jahr, sondern nur noch alle zwei Jahre stattfinden. Und Bundespräsident Pascal Couchepin hat vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre zu erhöhen. Kurzum: Die Schweizer sollen mehr Beiträge bezahlen, um hinterher weniger zu bekommen. Sozialdemokraten und Gewerkschaften sprechen von „Rentenklau“ und versprechen einen „heißen Herbst“.

Kosten für Kranke

Bis zum 1. Januar 1996 gab es in der Schweiz keine obligatorische Krankenversicherung. Jeder konnte vorsorgen, wie er wollte – oder es eben bleiben lassen. Seit diesem Tag ist das Krankenversicherungsgesetz in Kraft, und das schreibt eine Grundversicherung vor: Jeder muss versichert sein, jeder hat Anspruch auf dieselben Leistungen, und jeder bezahlt eine feste Prämie. Mitversicherte Ehefrauen oder Kinder gibt es nicht. Eine Kopfpauschale für alle Bürger also – manche nennen auch dies eine „Bürgerversicherung“.

Allerdings: So pauschal ist die Pauschale nicht. Über hundert private Versicherungsgesellschaften bieten den staatlich vorgegebenen Leistungskatalog an – zu Beiträgen, die von Kanton zu Kanton und von Versicherung zu Versicherung unterschiedlich sind. In Appenzell-Innerrhoden etwa liegt die Durchschnittsprämie bei 174 Franken (113 Euro), im noblen Genf bei 390 Franken (253 Euro). Der Gesamtschweizer Durchschnitt: 269 Franken (175 Euro). Innerhalb der Kantone gibt es Unterschiede von bis zu 100 Franken von einer Versicherung zur anderen.

Es herrscht also Konkurrenz, und das ist gewollt. Denn eigentlich sollte die obligatorische Grundversicherung den rasanten Anstieg der Gesundheitskosten abbremsen. In der Theorie war das so gedacht: Eine Versicherung handelt mit Ärzten und Krankenhäusern niedrigere Sätze für Honorare und Leistungen aus und gibt die eingesparten Kosten an die Versicherten weiter. Mit niedrigeren Prämien schnappt sie anderen Versicherungen die Kundschaft weg – es sei denn, auch die senkt ihre Kosten. Doch in der Praxis hat das nicht funktioniert. Das Kartell aus Ärzten und Versicherungen hielt zusammen. Das Schweizer Gesundheitswesen schluckt 10,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und ist hinter den USA fast gleichauf mit Deutschland das drittteuerste der Welt. Die unterschiedlichen Prämien haben einen ganz anderen Grund: Versicherungen, die in der Werbung auf junge Kunden zielen, haben niedrigere Ausgaben, weil ihre Versicherten gesünder sind.

Von Kostendämpfung aber keine Spur: Die den Versicherungen bezahlten Leistungen wurden von 1996 bis 2001 um 31,5 Prozent teurer, die den Versicherten zusätzlich abverlangte Eigenbeteiligung stieg um 42,9 Prozent. Die durchschnittlichen Monatsbeiträge stiegen allein von 2002 auf 2003 um 10 Prozent. Zudem müssen im Krankheitsfall die ersten 230 Franken im Jahr selbst bezahlt werden, von den ersten 6.000 Franken Kosten weitere 10 Prozent.

Sparen können Schweizer durch den Wechsel zu einer billigeren Versicherung. Das machen rund 3 Prozent im Jahr. Oder durch den Verzicht auf die freie Arztwahl. Wer zuerst zu einem vertraglich festgelegten Hausarzt geht oder sich auf eine Ärtzteliste verpflichtet, spart 10 bis 20 Prozent der Prämie. So soll die Zahl von teuren Facharztbesuchen gesenkt werden. Rund 10 Prozent der Versicherten machen davon Gebrauch. Und Sparen kann man schließlich bei den Zusatzversicherungen. Die Grundversicherung deckt Prävention (Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen), Medikamente, ambulante und stationäre medizinische Versorgung und Pflege. Ausnahme: Zahnärzte und ihre Leistungen müssen grundsätzlich selbst bezahlt werden. Einzel- oder Zweibettzimmer im Krankenhaus auch. Es sei denn, man schließt eine freiwillige Zusatzversicherung ab.

Obwohl sich nur rund 20 Prozent der Versicherten eine solche Aufstockung leisten, machen hier die Versicherungen ihre Gewinne. Denn die Grundversorgung darf von Gesetzes wegen nicht profitorientiert sein. Für Zusatzversicherungen bezahlten die Schweizer im Jahr 2000 Prämien in Höhe von 7,05 Milliarden Franken. Die Versicherungen dagegen hatten nur Ausgaben von 5,36 Milliarden Franken. Gut gelaufen.