: Untergang mit Niveau
Falk Richter inszeniert Tschechows „Die Möwe“ für die Salzburger Festspiele und wirft dabei Blickein die Eitelkeit der Künstlerseele. Dem Klassiker gönnt er eine Pause im Dekonstruktionsgeschäft
VON JÜRGEN BERGER
Man könnte das mit der Komödie für einen Etikettenschwindel halten. Aber dann sind da doch immer wieder Szenen wie die zwischen dem Lehrer Medwedenko und der Gutsverwaltertochter Mascha. Er ist in sie verliebt und macht ihr einmal mehr die Unbedingtheit seiner Gefühle deutlich, sie aber hält ihm lediglich die Schnupftabakdose hin: „Bedienen Sie sich.“ Kurz darauf will der junge Konstantin das Theater revolutionieren und die Atmosphäre schwankt zwischen Sehnsucht nach nostalgischer Theaterware und Konstantins als neues Theater getarnter Untergangsfantasie, bis der Arzt Dorn plötzlich meint, im heutigen Theater gebe es zwar kaum glänzende Begabungen, dafür sei der Durchschnittsschauspieler aber im Niveau gestiegen. Auch da ist man bei einem Tschechow angelangt, der in der Tiefe der Melancholie komisch wird, durch die Genauigkeit, mit er die Banalität im großen Entwurf aufspürt.
„Die Möwe“ ist also doch eine Künstlerkomödie über Wachablösungen im Kulturbetrieb, bei denen seit jeher nicht der Streit um ästhetische Konzepte, sondern Eitelkeit und Machtgier den Ton angeben. So gesehen durfte Falk Richter während seiner ersten Salzburger Regiearbeit gelegentlich einen Blick in die Tiefen der eigenen Künstlerseele werfen. Einerseits steht er dem Konstantin nahe und versorgt das deutsche Theater mit Texten, die weg wollen vom dialogischen Theater. Wenn Tschechows Nina sagt: „Ihr Stück ist schwer zu spielen. Es hat keine lebendigen Personen“, könnte Richter sich angesprochen fühlen. Andererseits ist er als Autor und Regisseur überaus erfolgreich und muss sich wohl auch nicht mit einer Mutter wie der Schauspieldiva Arkadina nebst deren Galan, dem erfolgreichen Schriftssteller Trigorin, herumschlagen. Richter hat innerhalb kurzer Zeit den Salzburger Sommerolymp des Sprechtheaters erklommen und darf dort nun während der Premiere erleben, dass selbst die Natur mitspielt.
Draußen gehen sintflutartige Regengüsse nieder und trommeln auf das Dach des Landestheaters, kurz nachdem Konstantins Apokalypse als Theater im Theater über die Bühne gegangen ist. Man hat sich versammelt und der junge Literat ist gereizt. Gleich wird Nina, in die er zu allem Unglück auch noch unsterblich verliebt ist, sich auf dem Boden winden, als sei ihr der Leibhaftige in den Leib gefahren. Yvon Jansen macht das expressiv-ekstatisch, während Falk Richter auf einer Videoleinwand im Hintergrund zwei glutrote Beelzebub-Augen leuchten lässt. Solch großflächige Videokommentare gibt es während des ganzen Stücks und man könnte meinen, dass Video auch hier den Bühnenstar killt. Richter setzt das Medium allerdings nicht wie der Bayreuther Kollege Schlingensief zur Stücküberflutung ein, sondern nutzt es wie ein dezent sich veränderndes Bühnenprospekt. Das macht er zurückhaltend und ist auch ansonsten ein respektvoller Regisseur. Er nimmt „Die Möwe“ nicht auseinander, sondern aktualisiert, indem er Ulrike Zemmes Neuübersetzung nutzt, Konstantin & Co. als heutige Theater- und Literaturkarrieristen zu inszenieren.
Zemmes Übersetzung wurde kürzlich auch in Zürich bei Werner Düggelins „Wanja“-Inszenierung genutzt. Auch dort standen Sylvana Krappatsch und André Jung auf der Bühne. Im Falle von Krappatsch ist interessant, welch unterschiedliche Färbungen sie ähnlichen Frauentypen geben kann. Brachte sie als Jelena mondäne Geziertheit ins Spiel, ist sie jetzt gleichzeitig überforderte Mutter und geltungssüchtige Diva. Jede Geste und jedes Wort dienen dem hysterischen Versuch, auf sich aufmerksam zu machen. André Jung dagegen, der in Zürich den Wanja spielte, ist als Trigorin ein nachlässig-nonchalanter Lebenskünstler. Dass er ein Artist der kleinen Verlegenheitsgesten ist, darf er erst zeigen, wenn Trigorin und die junge Nina sich im Gespräch über Literatur näher kommen. Da wird Jung zum kalten Charmeur, der gewollt fahrig die Bereitwilligkeit der ehrgeizigen Schauspielnovizin testet.
Jule Böwe ist als Tochter des Gutsverwalters eine raue Hardcore-Mascha, die irgendwann vom Schnupftabak zum Koks übergegangen ist. Auch in ihrem Falle wird deutlich, dass Richter den komischen Gehalt des Stückes zwar testet, ansonsten aber eher mit dem apokalyptischen Grundton spielt, der in Konstantins Bühnentext anklingt. Gegen Ende wird aus der Komödie ein schier existenzialistisches Familiendrama, dessen Tragik in der Interesselosigkeit der älteren an der jüngeren Generation liegt. Konstantin darf sich demonstrativ auf offener Bühne erschießen, während die Mutter sich mit den anderen wie zum Picknick lagert und zusieht. Mark Waschke setzt die Pistole an und fällt wie vom Blitz getroffen.
Richters erste Klassikertat, die nächste Saison am Züricher Schauspielhaus und der Berliner Schaubühne gezeigt wird, ist getan. Draußen regnet es immer noch und der schmale Auslauf vor dem Salzburger Landestheater lädt noch weniger dazu ein, die Festspielgarderobe spazieren zu führen.
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