Der Wille zum restlosen Einsatz

In Leben und Tod des Industriemanagers und Verbandsführers Hanns Martin Schleyer versinnbildlichen sich die Konflikte der 70er-Jahre in der Bundesrepublik

Oft gilt die Faustregel: Im Abstand einer Generation wird die Gegenwart zur Geschichte. Demnach verlassen inzwischen die 70er-Jahre die – je nachdem – Selbstverständlichkeit oder Umstrittenheit der bundesrepublikanischen Jetztzeit und präsentieren sich aus der Distanz als eine „seltsam neurotische Epoche“ (Lutz Hachmeister).

Auf der einen Seite entdecken wir heute ein geradezu geschichtsloses Zäsurbewusstsein und Modernitätsgefühl, den Höhepunkt des optimistisch-technokratischen „Modells Deutschland“. Auf der anderen Seite überlagerten sich historische und generationelle Schichten der deutschen Entwicklung seit dem Kaiserreich und entzündeten sich in dramatischer Weise aneinander. Nirgendwo wurde das deutlicher als im linksterroristischen Kampf der RAF und anderer Gruppierungen aus der Erbmasse der Studentenrevolte gegen das verhasste System des westdeutschen Staates und seiner Repräsentanten.

Die Repräsentanten trugen ihrerseits die biografische Bürde und oft genug: die unabweisbare Schuld von Diktatur, Rassismus und Völkermord mit sich. So erscheinen die 70er-Jahre mit ihrer Kulmination im „Deutschen Herbst“ von 1977 nicht mehr als Phase sicherer Solidität, in die unvermittelt äußeres Unheil einbrach, sondern eher als ein Abschluss der Nachkriegs- und Nachdiktaturzeit. Das Leben und nicht zuletzt der Tod des Industriemanagers und Verbandsführers Hanns Martin Schleyer schält sich als geradezu ikonisches Bild dieser Kontinuität und Verklammerung heraus. Das auf spannende Weise vorzuführen gehört zu den großen Stärken des Schleyer-Buches von Lutz Hachmeister.

1915 in bürgerliche Offenburger Verhältnisse geboren, geriet Schleyer schnell in den Sog der nationalsozialistischen Jugend- und Studentenbewegung. Dieser erste Radikalprotest akademischer Jugend in Deutschland im 20. Jahrhundert profitierte von den Kulturen des Nationalismus, des Rassismus und nicht zuletzt der männlichen Gewalt in schlagenden Verbindungen wie der Heidelberger „Suevia“. Der junge SS-Mann Schleyer brach zwar mit dem Korps, dessen Schmisse er im Gesicht trug, doch nur um noch entschiedener eins draufzusetzen. „Auslese bedeutet immer zugleich Ausmerze“, trommelte der 22-Jährige in einem Hochschulführer der Universität Heidelberg und stieg noch vor dem Jura-Examen in die Arbeit für das Studentenwerk ein.

Für eine große Karriere war er an entscheidender Stelle zu jung und blieb im Schatten einflussreicher Förderer. Das gilt auch für seine schon viel diskutierte Zeit in Prag zwischen 1941 und 1945, wo er zunächst wiederum für das Studentenwerk tätig war, dann für den Zentralverband der Industrie im „Protektorat“, also die Organisation der Besatzungswirtschaft. Nach immerhin knapp dreijähriger Internierung fand Schleyer, zunächst mühsam, dann immer steiler und teils mit Hilfe alter Seilschaften, in die Führungsetagen der westdeutschen Wirtschaft. Seine größte Niederlage war der verpasste Chefsessel bei Daimler-Benz; danach verlegte er sich ganz auf die Verbandsarbeit für Industrie und Arbeitgeberverbände, als deren Repräsentant ihn ein RAF-Kommando am 5. September 1977 in Köln kidnappte und sechs Wochen später erschoss.

Dieses Ende strukturiert die Biografie, aus ihm gibt es kein Entrinnen. In Gefangennahme und Tod blickte Schleyer, so könnte man Lutz Hachmeisters Perspektive bündeln, auf doppelte Weise in einen Spiegel. Es war der Spiegel der eigenen Vergangenheit und Schuld, die ihn in den Vorwürfen der fanatisierten Söhne und Töchter wieder einholte. Es war aber auch der Spiegel einer generationellen repeat performance: Die gewaltbereite Unbedingtheit der neuen Bürgerkinder hätte ihn an seinen eigenen Weg vor vierzig Jahren erinnern können.

Eine solche Inszenierung bereitet aber auch Probleme. Der biografische Entwurf nimmt Züge einer falschen Zwangsläufigkeit an – als habe es ja schließlich so kommen müssen. Und der Autor ist ein Meister der Inszenierung, der bekanntlich virtuos – und vielfach gewürdigt – auf der Klaviatur ganz unterschiedlicher Medien spielt. Insofern merkt man dem Buch die parallele Entstehung zu jenem Schleyer-Film an, der Hachmeister in diesem Frühjahr den Grimme-Preis eintrug. Billige Klischees bedient die stets kühle, abgewogene Analyse nicht. Aber sie löst das Problem auch nicht, ein Leben von einem Ende her zu erzählen, das auch ganz anders hätte kommen können. Der letzte Teil des Buches geht aus von der RAF, nicht mehr von Schleyer, der dadurch auch in der Biografie vom Subjekt zum Objekt seiner Feinde wird.

Aber um eine Biografie im klassischen Sinne handelt es sich hier gar nicht. Wer eine Annäherung an die Person Schleyers sucht, an die Prägung seiner Wesenszüge, an die Schnittstelle von privatem und öffentlichem Charakter, der wird nach der Lektüre eher enttäuscht sein. Oft gelangt Hachmeister über die öffentlichen und klischeeartigen Typisierungen – das trinkfeste Raubein mit dem weichen Kern – nicht hinaus. Am tiefsten ließ Hanns Martin Schleyer selber blicken, als er in einer Stellenbewerbung Anfang 1949 „den festen Willen zum restlosen Einsatz meiner Person für eine gestellte Aufgabe“ anpries: also jene letztlich instrumentelle Unbedingtheit, die von höheren Maßstäben gleich welcher Art weitgehend frei ist.

Ein heimlicher Gesinnungsethiker war Schleyer jedenfalls nicht – und in dieser Hinsicht blickte er bei seinen Entführern eben nicht in einen Spiegel. An den „bundesdeutschen Parallelwelten“, dem Leitmotiv dieser „deutschen Geschichte“ Hachmeisters, bleibt insofern manches unklar. Was besagt, zum Beispiel, der gemeinsame südwestdeutsche Hintergrund Schleyers und eines wichtigen Teils der RAF – trafen da zwei Rigorismen aufeinander, oder ist es doch nicht mehr als ein Zufall? Trotz dieser Einwände: Hachmeisters Buch ist wichtig, aufklärerisch und lesenswert. PAUL NOLTE

Lutz Hachmeister: „Schleyer. Eine deutsche Geschichte“. C. H. Beck Verlag, München 2004, 448 Seiten, 24,90 Euro