Seitenweise Kraut für‘s Volk

Ein Container in der Essener Innenstadt. Darin: Schriftsteller, Designer, Zeichner. Der Name des Kunstprojekts: Kraut – eine Zeitung von und für Menschen einer Stadt

Warum eigentlich dieser Name? Kraut. Das klingt nach Schweinshaxe und Schwarzer Krauser. Also: Warum? Christian zuckt die Schultern, schüttelt den Kopf. Er weiß es nicht. Obwohl er es wissen müsste, schließlich ist Christian der Kopf von Kraut. Aber, nun ja, der Name war halt irgendwann da, eine Idee, ein Einfall. Und jetzt fließt Kraut gerade aus dem Drucker. So sonderbar das auch klingt.

Aber Kraut hat eben nichts mit fettigen Speisen oder qualmenden Pflanzen zu tun – Kraut ist Kunst. Und außerdem eine Zeitung, produziert von jungen Berliner Künstlern. Seit drei Monaten tingelt die Gruppe mit ihrem mobilen Zeitungskiosk durch Deutschland. Das heißt: Der Kraut-Container ist nicht bloß ein Kiosk, er ist auch die Redaktion des Blattes, er ist ein Sprachrohr, eine Anlaufstelle für jedermann. Im Moment steht der Kasten auf dem Essener Willy-Brandt-Platz, wo er von Weitem aussieht wie ein Info-Stand irgendwelcher Öko-Aktivisten: grün-weiß gestreift, mit röhrendem Kunst-Hirsch vor der Tür. Aber auch mit Öko-Aktionismus haben die Künstler wenig am Hut. Ziel der Designer, Schriftsteller und Zeichner ist es, eine unabhängige Zeitung auf den überfluteten Print-Markt zu werfen und dabei Splitter zu sammeln, Fetzen der so genannten deutschen Identität. Das ist durchaus gelungene Medienkritik, da die Künstler sich immer wieder auf neuem Terrain orientieren müssen und nicht von geldgierigen Verlegern abhängig sind. Und vor allem wird Kraut nicht nur für‘s, sondern teilweise auch vom Volk selbst produziert. Denn wer sich berufen fühlt, kann hier fast alles raus lassen, was ihm gerade Sodbrennen bereitet. Thematische Grenzen existieren nicht. Christian Lagé wünscht sich sogar manchmal, etwas radikalere Storys in seinem Blatt beherbergen zu dürfen. Aber meistens suchen die Menschen nach ihrem vermissten Hund, ihrem Ego, manchmal auch bloß nach netten Gesprächspartnern.

So entsteht mit der Zeit eine Art Heimat-Album mit Impressionen aus Großstädten und den entlegensten Winkeln der Republik. Seit die Truppe in Stuttgart-Stammheim war, beschäftigt sie außerdem einen „Korrespondenten“. Ein Insasse des Stammheimer Hochsicherheitstrakts entwirft Woche für Woche Kreuzworträtsel für die Kraut-Macher. Und ein Obdachloser aus Koblenz berichtet regelmäßig über Neuigkeiten aus der Unterwelt. Stilistisch erinnert die achtseitige Zeitung dann oft an selbst gemachte Fanzines. Alles wird im Container fabriziert: vom Layout über die Anfertigung der Texte bis hin zum Druck. Das macht die Zeitungsarbeit transparent, es entmystifiziert sie sozusagen. Gestern wurde die Zeitung zum Beispiel mit Augenblicken aus der Umgebung gefüllt. Am Essener Hauptbahnhof ist eben immer was los. Ob das lehrreich und interessant ist, und ob es wirklich unverwechselbar die jeweilige Stadt abbildet – darüber lässt sich streiten. Bis Montag steht der Container jedenfalls noch in Essen, heute wird die letzte Ausgabe zum Thema Arbeit produziert. Und danach? „Danach geht‘s nach Wolfsburg“, lacht Christian, „zur Landesgartenschau.“ So was weiß er.

BORIS R. ROSENKRANZ