Hafen der Reichen und Elenden

Auswanderer hielten das irische Cork für die Eintrittspforte zum Himmelreich. Stattdessen landeten sie häufig in der Hölle auf dem Weg nach Amerika. Heute zeugt ein „Titanic“-Restaurant von Passagieren der anderen Art

„Allein 3 Millionen irische Auswanderer verließen bis 1970 ihr Land“

VON ROBERT B. FISHMAN

Wie ein Mahnmal thront die mächtige neugotische Kathedrale auf einem Hügel über der bunten Häuserzeile am Meer. Millionen hungriger Auswanderer verließen über den Pier der gebrochenen Herzen (Heartbreak-Pier) voll Angst und Hoffnung ihre Heimat.

Im Bahnhof erinnern Bilder, Klänge, nachgebaute Schiffskabinen und andere Inszenierungen an reiche Schiffsreisende, arme Auswanderer und Pioniere der Seefahrt. Der Heartbreak- Pier verrottet in den Wellen des Atlantiks.

Es ist eng und so stickig, dass die kleine Flamme in der Laterne erlischt. Wie einen kleinen Ball werfen die turmhohen Wellen das Schiff hin und her. Kreidebleich klammern sich die Menschen an die Bretter, die sie vor der wütenden Gewalt des Ozeans schützen sollen. Es ist dunkel, stockdunkel. Niemand kann den donnernden Lärm des Sturms überschreien. Wasser dringt durch die Ritzen.

Das Queenstown Heritage Centre im irischen Cobh wirft Bilder von halsbrecherischen Nordatlantiküberfahrten auf die Segel alter Schiffe. Aus den Lautsprechern heult der Sturm, Rufe der Besatzung, Angstschreie der Passagiere, die in der dritten Klasse unter Deck auf den nackten Planken kauern und kaum noch daran glauben, dass sie lebend in Nordamerika ankommen werden.

„Coffin Ships“, Sargschiffe, nannten die Iren die Seelenverkäufer, mit denen Millionen hungriger, bettelarmer Auswanderer aus ganz Europa vom Hafen der Stadt Cork nach Amerika aufbrachen. Viele Reeder und Kapitäne nutzten die Not der Verzweifelten aus. Einer Hand voll jüdischen Flüchtlingen aus dem russischen Litauen erzählte ein Kapitän in Cobh, dass sie nun in Amerika gelandet seien. Erst an Land erkannten sie, dass man sie übers Ohr gehauen hatte. Voll bepackt mit irischen Auswanderern, war das Schiff längst wieder Richtung New York ausgelaufen. Die Juden blieben, gründeten Corks erste israelitische Gemeinde an der irischen Südküste und holten später ihre Familien nach.

In Texten, Fotos, Filmen, nachgebauten Schiffskabinen, Bordkinos und an 100 Jahre alten Telefonen erzählt das Museum im ehemals britischen Queenstown an der irischen Südküste die Geschichte der Schifffahrt zwischen der Alten und der Neuen Welt. Es sind Geschichten von Abenteurern, Kriegsschiffen, Pionieren, Vergnügungsreisenden und den großen Transatlantikdampfern, die bis in die 1960er-Jahre Europa mit den USA verbanden.

Vor allem aber ist es die Geschichte von Millionen Menschen, die vor Hunger und Krieg nach Nordamerika flohen. Allein drei Millionen irische Auswanderer verließen zwischen 1815 und 1970 ihr Land über den zweitgrößten natürlichen Hafen der Welt. Für die Auswandererschiffe aus England, Deutschland und anderen europäischen Ländern war das damalige Queenstown (heute: Cobh) letzte Station auf dem Weg nach Amerika und Australien.

Nach Australien verschiffte die britische Regierung mehr als ein Jahrhundert lang ihre Sträflinge – Kriminelle und politische Gefangene wie die Rebellen, die 1798 mit einem Aufstand vergeblich versucht hatten, die britische Herrschaft in Irland abzuschütteln. „Auf dem überfüllten Schiff, auf dem die Gefangenen keine Luft und kaum etwas zu essen hatten, breiteten sich Krankheiten wie Typhus rasend schnell aus“, berichtet das Queenstown Heritage Centre in einer kleinen Ausstellung über die „Atlas“. 1801 legte das Segelschiff mit 153 Männern und 28 Frauen an Bord in Cobh ab. Unter Deck lagen die Gefangenen in Ketten. 70 starben auf der siebenmonatigen Reise.

Später schrieb das heute beschauliche Kleinstädtchen Cobh Seefahrtsgeschichte. Von hier lief Mitte des 19. Jahrhunderts der Dampfer „Sirius“ zur ersten Transatlantikfahrt ohne Segel aus, und am 11. April 1912 nahm die „Titanic“ ihre 144 letzten Passagiere auf. Nur 63 überlebten den Untergang des Schiffs, das, so die Eigenwerbung, „selbst Gott nicht versenken kann“.

Dort, wo die letzten „Titanic“-Passagiere ihre Fahrkarten kauften und ihre Reise begannen, hat Vincent Keaney dem Ozeanriesen ein Denkmal gesetzt. Mit einem Lottogewinn hat er das ehemalige Abfertigungsterminal der „Titanic“-Reederei White Star gekauft und zum Queenstown Titanic Restaurant umgebaut. Seine Gäste speisen in Sälen, die denen des berühmten Luxusdampfers gleichen. Mit dem ersten Gewinn, den das Lokal mit seiner Bar, den beiden Speisesälen und dem großen Biergarten direkt am Atlantik abwirft, will Keaney nun den Heartbreak-Pier renovieren. Über das inzwischen verrottete Holz-Eisen-Gerippe unter der Terrasse des Restaurants verließen jahrhundertelang Auswanderer ihre Heimat, um an Bord der Schiffe nach Nordamerika zu gehen. Das Letzte, was sie von ihr sahen, war der Turm der alten Kathedrale.

Info: Irland Information, Gutleutstr. 32, 60329 Frankfurt am Main, Tel. (0 69) 66 80 09 50, Mo.–Fr. 9–18 Uhr www.irland-urlaub.de Cork und Cobh im Internet: www.cork2005.ie, www.corkkerry.ie, www.corkcity.ie, www.corktourism.ie, www.cork-guide.ie offizieller Führer durch die County Cork: www.cobhheritage.com, www.eastcorktourism.com, www.titanicqueenstown.com, www.titanic-trail.com